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Kinderschänder-Prozess eröffnet

Bernd Riegert, zurzeit Arlon1. März 2004

Fast sieben Jahre nach seiner Festnahme hat am Montag (1.3.) im belgischen Arlon der Prozess gegen den mutmaßlichen Kinderschänder und Mörder Marc Dutroux begonnen. Bernd Riegert berichtet.

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Bild: AP

Bei klirrender Kälte betraten die 180 möglichen Geschworenen den kreisrunden Saal im neuen Justizpalast der kleinen Provinzhauptstadt Arlon im Süden Belgiens. Zwölf von ihnen werden während des ersten Prozesstages im Losverfahren als Jury ausgewählt, die im wichtigsten Strafprozess Belgiens ein Urteil über Marc Dutroux und seine drei Mitangeklagten fällen muss.

Dutroux wird die Entführung und Vergewaltigung von sechs Mädchen in den Jahren 1995 und 1996 zur Last gelegt. Vier Mädchen - Julie, Melissa, Eefje und An - soll er ermordet haben. Zwei konnten lebend gerettet werden, Laetitia und Sabine, die im Prozess aussagen werden. Der Anwalt von Laetitia, Georges-Henri Beauthier, sagte am Montagmorgen (1.3.2004), er erhoffe sich Gerechtigkeit. Ob tatsächlich alle Hintergründe der grausamen Taten geklärt werden könnten, sei nicht sicher.

Einzeltäter oder Netzwerk?

68 Prozent der Belgier glauben nach wie vor daran, dass Dutroux nicht der perverse Einzeltäter war, sondern prominente Auftraggeber in einem Kinderschänderring hatte. Eine Reihe von Ermittlungspannen, Rücktritten, Selbstmorden und getöteten Zeugen nährten über die Jahre diese Theorien. Die Anklage hat dafür keine Anhaltspunkte.

Eine der Anwältinnen von Marc Dutroux, Martine van Praet sagte vor Betreten des scharf bewachten Gerichtssaals, dass ihr Mandant aussagen werde, wollte aber nicht bestätigen, dass die Verteidigung einen Teil der Verantwortung für die Morde auf dunkle Hintermänner abwälzen will: "Es sind nicht seine Anwälte, die sprechen werden. Er wird aussagen und wird eine Menge zu sagen haben."

Schuld sind die anderen

Michelle Martin, die Ehefrau von Marc Dutroux, auf einem Archivbild vom 19. Aug. 1996
Michelle Martin, die Ehefrau von Marc DutrouxBild: AP

Dutroux hatte bislang die Morde an den vier Mädchen bestritten, die alle auf seinen Grundstücken begraben waren. Belgische Medien veröffentlichten eine schriftliche Erklärung Dutrouxs, in der er seine mitangeklagte Ehefrau Michelle Martin (Foto), seinen Helfer Michel Lelièvre und den Brüsseler Geschäftsmann Michel Nihoult schwer belastet. Dutroux schreibt, er sei Werkzeug, aber nicht Motor der Ereignisse gewesen.

Sehr zum Zorn der Opferfamilien zeigte der 47-Jährige bislang auch keine Reue. Zugegeben hat Dutroux aber den Mord an seinem Komplizen Bernard Weinstein. Lebenslange Haft dürfte ihm somit sicher sein.

Beauthier, Anwalt des überlebenden Entführungsopfers Laetitia, nannte die Erklärungen Dutrouxs eine weitere Ausgeburt des kranken Hirns eines Mannes, der offensichtlich nichts mehr zu verlieren habe.

Dutroux Prozess in Arlon - Michel Nihoul
Michel NihoulBild: AP

Der Mitangeklagte Nihoult, der aus gesundheitlichen Gründen aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, kündigte an, er wolle ebenfalls aussagen: "Ich werde mich hier stellen. Ich komme für mein Urteil nach Arlon."

Dutroux wirft Nihoult vor, die Kontakte zu einem Kinderschänderring hergestellt zu haben. Er sei das "Scharnier" gewesen. Nihoult soll im Brüsseler Sexgeschäft tätig gewesen sein. Französische Buchautoren behaupten, Nihoult habe Verbindungen bis ins belgische Königshaus. Das Buch wurde in Belgien verboten.

Ein Trauma für ganz Belgien

Marc Dutroux, Porträt
Marc DutrouxBild: dpa

Marc Dutroux wurde am Montag aus dem nahe gelegenen Hochsicherheitsgefängnis durch eine Hintertür ins Gerichtsgebäude gebracht. Er trägt eine kugelsichere Weste. Im Gerichtssaal sitzt er mit den Mitangeklagten in einem Glaskasten - zu seinem Schutz, aber auch als Schutz vor Ausbruchversuchen. 1998 war es Dutroux gelungen, für vier Stunden aus der Untersuchungshaft zu entfliehen.

Der Prozess, in dem über 450 Zeugen gehört werden sollen, ist auf zehn Wochen angesetzt. Das Gerichtsgebäude wird von mehreren 100 Journalisten belagert, die den Jahrhundertprozess in alle Welt übertragen. Für Belgien, so hoffen viele Menschen in Arlon, soll der Prozess den Schlussstrich unter ein langes Trauma ziehen. Nach der Dutroux-Affäre wurden umfangreiche Reformen in Justiz und Polizei durchgeführt. Nach Ermittlungspannen mussten zwei Minister, ein Polizeichef und ein Ermittlungsrichter zurücktreten.

Trauer und Wut bleiben

Still beobachten wird den Prozess auch Paul Marchal, der Vater der 17-jährigen ermordeten An. Er ist Lehrer und wurde erst nach langem Kampf von der Bildungsministerin beurlaubt, damit er das Verfahren zur Sühnung seiner Tochter von Anfang bis Ende sehen kann. Marchal, der auch glaubt, dass Dutroux anfänglich von Justiz und Polizeikreisen gedeckt wurde, ist nicht als Zeuge geladen. Er wird für den Schulunterricht in Belgien einen Bericht über den Prozess verfassen. "Nach all den Jahren kann ich wenigstens den Prozess meines Kindes sehen, das bringt ein klein wenig Seelenfrieden", sagte er.

Sabine, eines der Mädchen, das überlebte, tritt als Belastungszeugin auf und will ihrem Peiniger direkt in die Augen sehen, wie sie in Arlon ankündigte.