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Kinder der Schande - Norwegens dunkle Geschichte

Petra Tabeling22. November 2001

Sie heißen "Kinder der Schande" - Söhne und Töchter norwegischer Frauen und deutscher Soldaten. In Oslo endete jetzt ein vielbeachteter Prozess. Einige "Kinder der Schande" hatten gegen den norwegischen Staat geklagt.

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SS-Männer und norwegische Frauen sollten Kinder für den Führer zeugen (Filmszene aus "Spring of Life")Bild: presse

Anni-Frid Synni Lyngstad ist das wohl bekannteste Lebensborn-Kind. Als Sängerin der Kult-Popgruppe ABBA ist sie die einzige Prominente unter den "Kinder der Schande". Anni-Frid wurde kurz nach Ende des Krieges geboren, ihre minderjährige Mutter hatte eine Beziehung zu einem deutschen Soldaten. Als uneheliches Kind wuchs die Sängerin bei ihrer Großmutter in Schweden auf, auch um den Anfeindungen im eigenen Land zu entgehen. Andere konnten das nicht - Kinder deutscher Soldaten in Norwegen wurden weggegeben und oft in Heimen erzogen - aus Schande, denn sie galten nun als Produkt der deutschen Nationalsozialisten und Besatzer. Erst nach Jahrzehnten machen sie heute durch einen Gerichtsprozess auf ihre damalige Situation aufmerksam.

"Kinder für den Führer" - Das Lebensborn-Programm

Ausflug im Lebensborn-Heim
Erster Ausflug eines norwegischen Lebensborn-Heimes: Norwegische Kinderpflegerinnen auf einem Waldspaziergang zusammen mit Kindern deutscher Wehrmachtssoldaten (SS-Angehörige) und norwegischen Frauen im April 1943. Ca. 10 bis 12.000 Kinder stammen aus diesen Beziehungen, 5 bis 6.000 davon in Lebensborn-Heimen, dort wurden die Kinner im Sinne des Deutschen Reichs erzogen. Sie erhielten eine ausgewogene Ernährung, auf die Heinrich Himmler besonderen Wert legte. Der Chef der SS liess neun Lebensborn-Heime im besetzten Norwegen errichten.Bild: DW-WORLD

1935 gründete Heinrich Himmler, Chef der SS, ein Programm namens "Lebensborn“. Eine eigens gegründete Abteilung im Rasse- und Siedlungsamt beschäftigte sich fortan mit Himmlers Lieblingsprojekt: der Sicherung der "arischen Rasse". Der Kinderreichtum der SS sollte unterstützt werden und "jede Mutter guten Blutes geschützt", so Himmler in seinen Reden an die SS und deutschen Frauen. Jede schwangere Frau, die einen arischen Abstammungsnachweis vorzeigen konnte, war unterstützungsberechtigt. Sie bekam Lebensmittelmarken, Geld oder eine bevorzugte Behandlung für die Entbindung. In eigenen Entbindungsheimen, sogenannte Lebensborn-Heime, wurden die Geburten betreut und die Kinder erzogen.

Nicht nur deutsche Frauen konnten dies in Anspruch nehmen, sondern auch Frauen in besetzten Ländern. Insgesamt gab es mehr als 20 Heime, in Deutschland, Belgien, Luxemburg und Frankreich.

Die norwegischen "Kinder der Schande"

In Norwegen gab es sogar neun Lebensborn-Heime. Himmler befand die norwegische Rasse als besonders arisch und wertvoll: stark, blond und blauäugig, so sollte der Nachwuchs sein.

SS-Offiziere mit Lebensborn-Kind
Deutsche SS-Offiziere bei einer Namensgebungsfeier eines Lebensborn-Kindes. Sie sollten die christlichen Taufen ersetzen. Bei dieser Nazi-Feier war der Vater und die Familie des Kindes anwesend. Heinrich Himmler wollte damit den arischen Nachwuchs sichern - im Sinne von "Kinder für den Führer". Ca. 10 bis 12.000 Kinder stammen aus diesen Beziehungen, 5 bis 6.000 davon in Lebensborn-Heimen, dort wurden die Kinner im Sinne des Deutschen Reichs erzogen. Sie erhielten eine ausgewogene Ernährung, auf die Heinrich Himmler besonderen Wert legte. Der Chef der SS liess neun Lebensborn-Heime im besetzten Norwegen errichten.Bild: DW-WORLD

Etwa 350.000 deutsche Wehrmachtssoldaten hielten Norwegen während des Zweiten Weltkrieges besetzt. Und gingen, von Himmler gefördert, Beziehungen mit norwegischen Frauen ein. Es wird geschätzt, dass ca. 12.000 Kinder aus diesen Verhältnissen stammen. 5-6.000 von ihnen kamen in den Lebensborn-Heimen zur Welt. Ab 1941 wurden die "rassisch wertvollen" Kinder aus diesen Gebieten zwangsweise eingedeutscht. Nach Ende des Krieges wurde ihnen das in Norwegen zum Verhängnis: viele kamen in Erziehungsheime und wurden misshandelt. Die Erfahrungen zeichnet sie bis heute.

Das berichten die ehemaligen Lebensborn-Kinder nach Jahrzehnten des Schweigens. Paul Hansen, 58, weiß von unmenschlichen Lebensbedingungen in diesen Heimen zu berichten. Er kam als Sohn eines deutschen Luftwaffenpiloten sogar in eine Anstalt für geistig behinderte Kinder – obwohl geistig völlig gesund.

Paul Hansen
Der Norweger Paul Hansen, Kläger im "Oslo-Prozess", bei dem die norwegischen ehemaligen Lebensborn-Kinder Schadensersatz vom norwegischen Staat erstreiten wollen. Viele der während des zweiten Weltkrieges in den nationalsozialistischen Waisenheimen der Organisation Lebensborn aufgewachsenen Kinder geben an, nach dem Krieg Repressionen und körperlichen Mißhandlungen ausgesetzt worden zu sein.Bild: DW-WORLD

Wiedergutmachung nach mehr als 55 Jahren

Ungefähr 170 der ehemaligen Lebensborn-Kinder haben sich 1997 zusammengefunden um gemeinsam den norwegischen Staat wegen Verletzung der Menschenrechte anzuklagen. Denn Paul Hansen, so Tor Brandacher, Sprecher der Gruppe, war kein Einzelfall. Tor, Sohn eines Schweizer Gebirgsjägers und einer Norwegerin, hatte Glück; er genoss „eine normale Kindheit“, so sagt er heute. Hunderten erging das anders. Sie berichten sogar von Vergewaltigungen und, wie Paul Hansen, von schwersten Misshandlungen in diesen Heimen. Norwegen habe seine Kinder wie Dreck behandelt, die Mauer des Schweigens müsse endlich aufgebrochen werden, beteuert Brandacher. Und fordert deshalb für die anderen Lebensborn-Opfern eine Wiedergutmachung, finanziell als auch moralisch.

Gerechtigkeit? Der Prozess in Oslo

Am 29.10.2001 startete in Oslo ein Prozess, in dem Brandacher und weitere Kläger den Staat verklagen. Der Prozess erregte großes Medieninteresse, für Tor ein Zeichen der Brisanz dieses Themas. Verbunden mit der Hoffnung auf eine Enthüllung der düsteren norwegischen Vergangenheit. Heute wies das Gericht die Klage zurück. Sie sei verjährt und die Schuld des Staates nicht nachweisbar. Die Kläger hatten jeweils bis zu zwei Millionen norwegische Kronen (253.000 Euro) verlangt.

"Wir sind bereit, weiterhin für unser Recht zu kämpfen", so Brandacher nach der niederschlagenden Nachricht. "Wir werden niemals aufgeben, wir kämpfen schon seit so vielen Jahren und werden das auch weiterhin tun. Dieser Fall wird niemals sterben".

Die Lebensborn-Kinder wollen nun den Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gehen.

Eine Ausstellung in Delmenhorst zeigt zum ersten Mal historisches Material, Dokumente und Gegenstände aus Lebensbornheimen: "Deutsche Mutter bist du bereit", Museen der Stadt Delmenhorst, Am Turbinenhaus 10-12 (bis zum 16.12.2001)