1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kiezdeutsch

https://p.dw.com/p/JnQO
NEU DeutscheSprache_Banner_590x84_sRGB

Die Sprache Jugendlicher in multiethnischen Wohngebieten wird oft als schlechtes Deutsch abgetan. Die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese erkennt dagegen im sogenannten Kiezdeutsch einen neuen Dialekt, der das Deutsche bereichert.

Streiten über Deutsch, Heike Wiese, Illustration 1

Seit einiger Zeit ist in Deutschland eine Jugendsprache ins Blickfeld der Öffentlichkeit getreten, die sich in Wohngebieten mit einem hohen Migrantenanteil entwickelt hat. Hier einige Beispiele aus diesem Sprachgebrauch:
"Lassma Viktoriapark gehen, lan."
"Ich höre Alpa Gun, weil der so aus Schöneberg kommt."
"Ich hab meiner Mutter so Zunge rausgestreckt, so aus Spaß. Wallah."

Ich verwende für diese Jugendsprache den Ausdruck "Kiezdeutsch", der mittlerweile in der öffentlichen Diskussion gut eingeführt ist und negative Vorabwertungen wie etwa "Kanak Sprak" vermeidet. Die Bezeichnung "Kiezdeutsch" betont, dass wir es mit einer Varietät des Deutschen zu tun haben, mit einer sprachlichen Praxis, die zum Spektrum des Deutschen gehört, und weist darauf hin, dass diese Jugendsprache im Kiez beheimatet ist, einem alltäglichen Wohnumfeld. Schließlich beinhaltet "Kiezdeutsch" keine ethnische Eingrenzung und kann so erfassen, dass diese Jugendsprache nicht nur von Sprecherinnen und Sprechern einer bestimmten Herkunft gesprochen wird.

Wie die Beispiele oben zeigen, finden sich in Kiezdeutsch unter anderem Neuerungen in zwei Bereichen: Erstens werden neue Wörter verwendet, die zum Beispiel aus dem Türkischen oder Arabischen stammen, wie "lan" (wörtlich "Mann/Typ"), das im ersten Beispiel so ähnlich wie "Alter" gebraucht wird, oder "wallah" (wörtlich "und Allah"), das im letzten Beispiel als Bekräftigungswort verwendet wird, so ähnlich wie zum Beispiel "Echt!". Zweitens gibt es grammatische Abweichungen vom Standarddeutschen, etwa Zusammenfügungen wie "lassma", Ortsangaben wie "Viktoriapark", die ohne Artikel und Präposition auftreten, Verbindungen von Verben mit Nomen ohne Artikel (z.B. "Zunge rausstrecken") und die Verwendung von "so" an ungewöhnlichen Stellen.

Diese sprachlichen Neuerungen liefern in der öffentlichen Diskussion zu Kiezdeutsch oft Anlass für massive Sprachkritik. Kiezdeutsch wird als "gebrochenes Deutsch" angesehen, als aggressives "Gossen-Stakkato" integrationsunwilliger Jugendlicher, das auf "Spracharmut" und "sprachliches Unvermögen" hinweise, eine "Verhunzung des Deutschen", die zum "Verfall unserer Sprache" beitrage. (Zitate aus Medien und aus Zuschriften in Reaktion auf öffentliche Berichte zu sprachwissenschaftlichen Forschungsergebnissen zu Kiezdeutsch).

Streiten über Deutsch, Heike Wiese, Illustration 2

Bedroht Kiezdeutsch also die deutsche Sprache? Handelt es sich um eine reduzierte Sprachform, die das Deutsche in seiner Ausdrucksfähigkeit einschränken könnte? Weist der Gebrauch von Kiezdeutsch auf die Verweigerung sprachlicher Integration? Die Antwort auf diese Fragen ist ein klares "Nein": Man wird Kiezdeutsch am ehesten gerecht, wenn man es als neuen Dialekt des Deutschen ansieht, eine neue Varietät, die das Deutsche nicht bedroht, sondern bereichert. Im Folgenden führe ich einige Punkte auf, die dies stützen.

Kiezdeutsch hat keine reduzierte Grammatik. Die Neuerungen in Kiezdeutsch weisen auf sprachliche Innovation, nicht auf Vereinfachung. Dies zeigt sich nicht nur in neuen Fremdwörtern wie "lan" oder "wallah", sondern auch in Neuerungen, die die grammatischen Optionen des Deutschen systematisch weiterentwickeln. Beispielsweise entsteht ein neues Aufforderungswort wie "lassma" aus der Wendung "Lass uns mal …" in ganz ähnlicher Weise, wie das Wort "bitte" ursprünglich aus der Wendung "Ich bitte dich" entstanden ist. Bloße Ortsangaben wie "Viktoriapark" kennen wir ebenso aus Wegbeschreibungen wie "Sie müssen Alexanderplatz umsteigen", in denen meist auch keine Präposition ("am Alexanderplatz") mehr benutzt wird. Konstruktionen wie "Zunge rausstrecken" entwickeln das Muster der deutschen Funktionsverbgefüge weiter ("Angst haben", "Krawatte tragen"). Und die Verwendung von "so" in Kiezdeutsch weist auf die Entstehung einer Fokuspartikel hin, das heißt eines Wortes, das im Satz vor dem Ausdruck steht, der die neue, besonders hervorzuhebende Information liefert. Neuerungen in Kiezdeutsch weisen somit auf eine systematische sprachliche Weiterentwicklung, wie wir sie auch aus anderen Dialekten kennen.

Kiezdeutsch ist kein falsches Deutsch. Kiezdeutsch ist eine Varietät, die in sich stimmig ist. Wie jeder Dialekt ist es durch Abweichungen vom Standarddeutschen gekennzeichnet, diese sind aber systematisch und nicht bloße Fehler. Dies zeigte sich etwa in einer Studie, in der wir Jugendlichen in Berlin-Kreuzberg unterschiedliche Sätze vorspielten, die entweder standarddeutsch waren oder typische Kiezdeutsch-Merkmale zeigten oder aber willkürliche grammatische Fehler enthielten. Kiezdeutsch wurde hier ganz klar als eigene Varietät abgegrenzt: Die Jugendlichen akzeptierten die Standardsätze problemlos, erkannten die Kiezdeutschsätze und beschrieben sie als Teil ihres Sprachgebrauchs mit Freunden ("Ja, so sprechen wir manchmal.") und lehnten dagegen die Fehlersätze durchgehend als falsch ab ("Nein! Also ganz ehrlich, woher haben Sie das denn?").

Streiten über Deutsch, Heike Wiese, Illustration 3

Kiezdeutsch weist nicht auf mangelnde Sprachkenntnisse. Kiezdeutsch ist eine Jugendsprache und damit nur ein Teil des sprachlichen Repertoires von Jugendlichen. Es gibt ja nicht das Deutsche, sondern die deutsche Sprache umfasst wie jede Sprache ein Spektrum unterschiedlicher Varietäten und Stile, und Jugendsprachen sind ein Teil davon. Wir alle beherrschen mehrere Elemente dieses Spektrums und sprechen beispielsweise neben dem Hochdeutschen noch eine regional gefärbte Varietät, und wir sprechen ein stärker informelles Deutsch mit der Familie oder Freunden als zum Beispiel mit Vorgesetzten oder bei einer Prüfung. Für die gesellschaftliche Teilhabe und das berufliches Fortkommen Jugendlicher ist es wesentlich, dass auch das Standarddeutsche Teil ihres sprachlichen Repertoires ist, dies ist aber unabhängig davon, ob sie mit ihren Freunden Kiezdeutsch sprechen. Die Landessprache erwerben Kinder gleich welcher Herkunft normalerweise lange vor Eintritt in die Schule – wenn das Bildungssystem ihnen die Chance dazu gibt, das heißt ausreichend viele Kindergartenplätze mit ausreichend vielen, gut ausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern bietet.

Kiezdeutsch ist kein Zeichen für fehlende Integration. Kiezdeutsch ist nicht das Deutsch "ausländischer" Jugendlicher, sondern hat sich im gemeinsamen sprachlichen Alltag Jugendlicher unterschiedlicher, einschließlich deutscher, Herkunft entwickelt. Kiezdeutsch ist damit ein Zeichen für eine besonders gelungene sprachliche Integration: ein Beitrag aus multiethnischen Wohngebieten, an dem Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen beteiligt sind.

Kiezdeutsch ist somit keine Bedrohung, sondern bereichert das Deutsche um einen neuen Dialekt. Eine Bedrohung ist es möglicherweise, wenn wir Sachargumente hierzu in die zum Teil recht emotional geführte Diskussion einlassen – keine Bedrohung für das Deutsche, aber vielleicht eine Bedrohung für lieb gewonnene Vorurteile gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen oder für einen bequemen Sündenbock, der für unser Versäumnis herhalten muss, Kindern nicht-deutscher Herkunftssprache die Chance zu geben, das Standarddeutsche als eine von mehreren Erstsprachen zu erlernen.

NICHT LÖSCHEN!! Weißzeile für Projekt Sprache von Welt? Streiten über Deutsch
Heike Wiese (Foto: privat)

Heike Wiese, Jahrgang 1966, ist Professorin für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam. Ihr Forschungsinteresse gilt dem Zusammenspiel zwischen Sprache, Denken und Kultur. Zum Thema "Kiezdeutsch" leitet sie ein Projekt im Sonderforschungsbereich "Informationsstruktur" der Universität Potsdam und der Humboldt-Universität Berlin und ist Sprecherin eines europäischen Netzwerks zu multiethnischen Jugendsprachen.

Streiten über Deutsch, Heike Wiese, Illustration ganz