Knochen versus Synthesizer
6. April 2009Es klappert rhythmisch auf der Debüt-CD von Radiokijada, der Takt geht in die Beine. Ein Blick in das Booklet verrät allerdings, dass es sich um kein gewöhnliches Instrument handelt, sondern um den Kieferknochen eines Esels. In der Hand des peruanischen Musikers Rodolfo Muñoz mutiert er zum Percussionwerkzeug namens "quijada". Erfunden haben es afrikanische Sklaven, die von den spanischen Kolonialherren in die neue Welt verschleppt wurden. Die traditionellen Trommeln, mit denen sie ihre Ahnen rhythmisch verehrten, blieben in der alten Heimat zurück, als Ersatz kam die quijada zum Einsatz. Maulesel wurden in Goldminen und auf Plantagen als Lasttiere eingesetzt, Kieferknochen gab es also reichlich.
Sprachrohr einer untergegangenen Welt
Für den Schweizer Christoph Müller sind solche Geschichten die Wurzel des Musikprojekts Radiokijada. "Unsere Musik basiert auf den traditionellen afro-peruanischen Rhythmen. Wir versuchen klarzumachen, was trotz der tragischen Kolonialgeschichte an toller Kultur entstanden ist", betont er."„Aber man kann diese Musik nicht spielen oder als Inspiration benutzen, ohne von ihrer Entstehung zu erzählen." Insofern versteht sich Radiokijada auch als Sprachrohr einer untergegangenen Welt, legt immer wieder den Finger in die Wunden der Geschichte und benutzt dazu das gesprochene Wort, das Rodolfo Muñoz mit tiefer, fast pathetischer Stimme kraftvoll intoniert. Aber Radiokijada will nicht nur aufklären, die Musiker wollen auch unterhalten und deswegen gibt es auf dem Debüt-Album auch immer wieder fröhliche Nummern.
Ein offenes Ohr für Experimente
Noch heute spielen die Nachfahren der Sklaven auf der quijada, sie trommeln auf umfunktionierten Obstkisten namens "cajón" und schlagen im Takt dazu die Deckel der "cajitas" zu, hölzerne Kästchen, die man in der Kirche zur Kollekte nutzte. Der Peruaner Rodolfo Muñoz kennt sich mit dem musikalischen Erbe seiner Ahnen bestens aus, aber da er kein Traditionalist ist, hat er immer ein offenes Ohr für Experimente aller Art. Und so entstand bei einer spontanen Session mit seinem langjährigen Freund Christoph Müller, einem Meister elektronischer Tüfteleien, die Idee zu Radiokijada. "Was dabei rauskommt ist einerseits authentisch afro-peruanische Musik und gleichzeitig ist es auch zeitgenössisch modern", sagt Müller. "Ich hab einen enormen Respekt vor dieser traditionellen Musik, aber ich bin nicht aus Peru und kann es mir deswegen erlauben, ein paar Tabus zu brechen." Mit einem Augenzwinkern zu seinem Partner Muñoz fügt er lächelnd hinzu: "Rodolfo ist ja immer da, um mir zu sagen: Ne, das kannst du jetzt aber nicht machen."
Eine Reise durch Zeit und Raum
Allzu oft schreitet der Percussionist Rodolfo Muñoz allerdings nicht ein, und so finden sich afro-peruanische Klänge wie "landó", "festejo", "zamacueca“ oder "lamento" im Radiokijada-Kosmos plötzlich im 21. Jahrhundert wieder. Die Plantagenmusik der Sklaven begibt sich auf eine Reise durch Zeit und Raum und erwacht mittels digitaler Synthesizereffekte zu neuem Leben. "Es ist schon eine versteckte Botschaft dabei“, unterstreicht Christoph Müller. "Diese Fusion, die vor über 500 Jahren angefangen hat, kann jetzt weitergehen. Die afro-peruanische Musik wird jetzt um die ganze Welt reisen, von Lima nach Paris, nach Moskau, nach Tokio, wo auch immer." Im Takt dazu wird die quijada rhythmisch klappern und dafür sorgen, dass die Sklaven einer längst untergegangen Welt noch heute Gehör finden.
Autorin: Suzanne Cords
Redaktion: Matthias Klaus