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Keine Rechtfertigung

Cornelia Rabitz 3. September 2004

Die Staatengemeinschaft hat zu lange dem Tschetschenien-Konflikt zugesehen. Eine Rechtfertigung für die Gräueltat in der Schule von Beslan ist das nicht. Nun ist Putin am Zuge. Cornelia Rabitz kommentiert.

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Cornelia Rabitz

Der Terror hat in Russland neue, beängstigende Dimensionen erreicht. Es sind skrupellose Verbrecher und nicht etwa Freiheitskämpfer, die sich unschuldiger Kinder und Erwachsener bemächtigten und sie 50 quälende Stunden in Geiselhaft hielten. Auch wenn man den Sicherheitskräften mangelnde Koordinierung und Chaos ankreiden kann, eine Mitverantwortung für hunderte Verletzte und mehr als 100 Tote: Schuld sind die Terroristen. Für ihre Tat gibt es keine Rechtfertigung, auch nicht das Leid des tschetschenischen Volkes.

Noch ist nicht klar, wie viele Opfer das Geiseldrama von Nordossetien gefordert hat oder noch fordern wird. Unklar bleibt auch der Ablauf der Geschehnisse: Haben die Ereignisse die russischen Sicherheitskräfte überrascht? Oder war die Erstürmung des Schulgebäudes längst geplant? So viel aber steht fest - es war ein Ende mit Schrecken. Man sah es den von Angst und Entsetzen gezeichneten Überlebenden und ihren Angehörigen an. Viele von ihnen werden noch Jahre an den körperlichen und psychischen Folgen der Geiselhaft leiden.

Die Welt schaute dem Drama erschüttert und ohnmächtig zu. Die Geiselnehmer hatten in ihrer kompromisslosen Brutalität genau dies beabsichtigt - zu demonstrieren, wie wehrlos die internationale Gemeinschaft ist, wenn Terroristen so genannte "weiche Ziele" angreifen. Sie haben Unsicherheit und Angst gesät.

Nur zögernd und sehr widersprüchlich drangen Details an die Öffentlichkeit, wurden Zahlen bekannt und benannt. Die russische Führung, die Behörden und Dienste haben nichts zur Information beigetragen - ganz nach dem bekannten Muster: verharmlosen, herunterspielen, beschönigen. Wie viele Geiselnehmer es gab, wie viele Geiseln - niemand erfuhr etwas davon.

Irgendwann, wenn das Chaos dieses Tages vorbei ist, wenn die Menschen trauern dürfen um die Opfer, und Erleichterung empfinden zusammen mit denen, die davongekommen sind, wird man sich auch Fragen stellen. Eine davon muss lauten: Wie geht es weiter in der Tschetschenien-Politik Russlands? Die Aussichten sind derzeit trübe, es gibt Befürchtungen, nun könne sich ein Flächenbrand im nördlichen Kaukasus entwickeln. Möglich, dass es auch in anderen Regionen des riesigen russischen Staates zu Absetzbewegungen militanter Unabhängigkeitskämpfer kommt.

Man darf dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen. Die internationale Gemeinschaft war zu lange passiv, sie duldete stillschweigend die dramatischen Vorgänge in Tschetschenien - sie waren ja bemäntelt vom Stichwort "Kampf gegen den internationalen Terror". Nun muss man versuchen, den russischen Präsidenten zur Umkehr zu bewegen - Wladimir Putin ist zum politischen Handeln aufgerufen.

Seine Strategie der harten Hand, der erbarmungslose Militäreinsatz in Tschetschenien, ist mit diesem Geiseldrama und den blutigen Anschlägen der letzten Tage gescheitert. Er hat die Region nicht befriedet, er hat nicht mehr Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger Russlands bewirken können. Er hat das Leiden der tschetschenischen Bevölkerung gemehrt und nicht gemindert. Und er kann auch mit der größten Militärmaschinerie - das ist die bittere Lehre der letzten Tage - Terroranschläge nicht verhindern. Zumindest nicht solche auf Zivilisten und zivile Einrichtungen.

Putin muss eine andere Strategie wählen. Er muss die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien beenden, Soldaten, die vergewaltigen, foltern, morden und plündern zur Rechenschaft ziehen, er muss dem Recht wieder zur Geltung verhelfen. Der Präsident muss auch die tschetschenische Zivilgesellschaft stärken, er muss dafür sorgen, dass Wiederaufbauhilfe in den zerstörten Städten und Dörfern ankommt, er muss Zeichen des Wiederaufbaus und der Versöhnung ermöglichen und den Menschen eine Perspektive geben. Er wird Verhandlungspartner finden müssen. Und so auch dazu beitragen, dass der Gewalt der Nährboden entzogen wird, dass endlich Terroristen und Islamisten im Kaukasus keine Chance mehr haben.

Das ist schwierig, zumal es inzwischen an seriösen Verhandlungspartnern mangelt. Tut er das jedoch nicht, so wird sich die Spirale der Gewalt weiterdrehen. Neuer Terror wird immer neue Opfer fordern.

Die Entführer haben für die Tschetschenen nichts erreicht, sie haben dem kleinen Kaukasusvolk mit der jüngsten Geiselnahme einen Bärendienst erwiesen, sie müssen für ihre Verbrechen unnachsichtig zur Rechenschaft gezogen werden. Politisch ist jetzt jedoch Wladimir Putin am Zuge.