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Sonntagsritual

28. Februar 2011

Deutsche Kirchen klagen über leere Gotteshäuser. Von Verhältnissen wie in den USA können sie nur träumen: Amerikaner lieben ihren sonntäglichen Gang zur Kirche. Und er bedeutet für sie mehr als reine Pflichterfüllung.

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Bild: DW

Die Luft ist zum Zerschneiden dick in dem großen, halbrunden Kirchenraum. Rund 150 Gläubige lauschen der Predigt des Priesters. "Amen!" rufen sie, wenn er ihnen mit seinen Worten genau aus der Seele spricht. "Gott hat gemacht, dass Obama Präsident wurde! Gott war das!" sagt der schwarze Priester. "Amen!" ruft die Gemeinde. Auch sie ist schwarz. Und jeder Einzelne von ihnen soll alle Möglichkeiten dieser Welt bekommen, so, wie Obama sie bekommen hat, fordert der Priester.

Der Grund, warum ich an diesem Sonntagmorgen in die schwarze Baptist Church in Washington, DC, gehe, ist nicht die Hoffnung auf ein besseres Leben. Es ist die Neugierde, meine neue Nachbarschaft besser kennen zu lernen. Dass mir die Luft zum Atmen knapp wird, liegt vermutlich weniger an der Hitze als an der ungewollten Aufmerksamkeit, die ich beim Eintritt in das Gotteshaus bekomme. Ich bin die einzige Weiße in dem Raum. Ein Mann im festlichen schwarzen Anzug, der mich am Eingang begrüßt, begleitet mich zu meinem Platz. In den ersten beiden Reihen sitzen rund ein Dutzend Frauen sämtlicher Altersstufen. Sie alle tragen weiße Kostüme und einen schwarzen Hut.

Nach dem Feierabend kurz zum Beten

Die ältere Dame am anderen Ende meiner Bank ist ebenfalls schick zurechtgemacht. Während der Priester spricht, kommt sie auf mich zu. In der Hand hält sie eine Bibel. Mit ernstem Blick zeigt mir die kleine, etwas gebeugt gehende Frau die Stelle im Text, über die gerade gesprochen wird. Dann überlässt sie mir die Bibel und tapert vorsichtig zurück zu ihrem Platz. Nach der Lesung spielt die Band, bestehend aus E-Gitarre, Schlagzeug, Klavier und Bass, "Oh, praise the Lord." Wieder stimmt die Gemeinde mit ein.

Szenenwechsel: Es ist gegen sechs Uhr abends, an einem Donnerstag. Schon auf dem Weg zur Washington National Cathedral sticht einem das große, gotische Gotteshaus ins Auge. Wie aus einem Bilderbuch thront die nach eigenen Angaben sechstgrößte Kirche der Welt über der US-Hauptstadt. Die Washington National Cathedral wurde erst 1990 komplett fertig gestellt. Sie ist eine Episkopalkirche, das heißt, sie vereint Elemente der römisch-katholischen Kirche mit denen der protestantischen. Als ich das Gotteshaus betrete, hallt ein festlicher Gesang durch die Kirche. Auch hier ist gerade Gottesdienst. Im riesigen Mittelschiff der Kirche sitzen allerdings lediglich drei Personen. Als ich näher komme, sehe ich, woher der Gesang stammt: Rechts und links des Altars sitzen immerhin rund 40 Gläubige – und das am frühen Donnerstagabend.

Eine Kirche auf 360 Einwohner

Wer einen Blick in die Gelben Seiten von Washington wirft, der findet dort sage und schreibe 1654 eingetragene Kirchen – bei 600.000 Einwohnern heißt das: 360 Einwohner in Washington teilen sich ein Gotteshaus. Da ist es kein Wunder, dass ich auf meinem Weg zur Arbeit in fast jedem Block eine Kirche finde. Auch zwei Häuser der umstrittenen Church of Scientology gehören dazu. Als der Gottesdienst in der Washington National Cathedral vorbei ist, verabschiedet die Pastorin die Teilnehmer, dann fahren alle mit ihren schweren Autos nach Hause.

Nach dem Sonntagsgottesdienst in der Baptist Church geht niemand nach Hause. Alle treffen sich zum gemeinsamen Lunch. "Außerdem haben wir Muffins für einen Dollar", verkündet eine junge Frau durch das Mikrophon der Band. Sie war während des Gottesdienstes immer nur kurz in der Kirche aufgetaucht, und dann wieder in einem Hinterzimmer verschwunden – wohl, um alles vorzubereiten.

"Möchten Sie mit dem Priester sprechen?" fragt mich eine der Damen, die sich für den Gottesdienst so schick gemacht haben. Auch wenn mir so schnell gar nicht einfällt, worüber ich mit ihm sprechen will, nehme ich dankend an. Der Priester fragt, woher ich komme, und dass Gott mich segnen solle.

Soziales Netzwerk

Was ist es, was die Amerikaner sonntags in Scharen in die Kirche treibt? Ob es nun die schicke National Cathedral ist oder die kleine, gut geheizte Gospel Church in dem überwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel: "In erster Linie ist die Kirche für uns ein soziales Netzwerk", sagt Paula, eine Frau aus der Nachbarschaft. "Jim von gegenüber zum Beispiel ist in der gleichen Gemeinde aktiv wie Ken Starr, der Anwalt, dessen Ermittlungen nach der Lewinsky-Affäre zum Amtsenthebungsverfahren von Bill Clinton geführt haben." Da ist es einfach, Kontakte zu knüpfen.

Gerade in armen Gegenden bietet die Kirche den Menschen vor allem emotionalen Halt. Die Älteren unter ihnen glauben buchstäblich an die Auferstehung und an ein Leben im Himmel. "Vielleicht ist es auch ein bisschen scheinheilig, aber der Glaube gehört eben zu unseren familiären Werten", sagt meine Nachbarin, "damit sind wir groß geworden". "Bitte, kommen Sie wieder!", sagen mehrere Besucher, als sie nach dem Gottesdienst auf mich zukommen. Was mir anfangs die Luft zum Atmen genommen hat, das gibt ihnen Kraft. Und ich verspreche tatsächlich, noch einmal wieder zu kommen.

Autorin: Katharina Lohmeyer

Redaktion: Christina Bergmann