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Kein Ende des chinesischen Lagersystems

Matthias von Hein15. Januar 2014

Ende 2013 hat China die sogenannte "Umerziehung durch Arbeit" in Straflagern abgeschafft. Aber in anderen Lagern kann die Polizei weiterhin Menschen einsperren - ohne jeden Prozess und ohne Chance auf Berufung.

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Gefangene im mit Doppelbetten ausgestatteten Schlafraums eines Arbeitslagers für Frauen in der Provinz Jiangsu (Foto: Picture Alliance / dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Ende Dezember hat in China der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses bestätigt, was bereits im November auf einer Tagung des Zentralkomitees der KP Chinas beschlossen worden war: Das sofortige Aus für die sogenannte "Umerziehung durch Arbeit" in eigens unterhaltenen Straflagern. In diese Lager konnte die Polizei Kleinkriminelle oder sonstige unliebsame Personen für bis zu vier Jahre schicken - ohne Zugang zu einem Anwalt, ohne Chance auf Berufung.

Viele Beobachter begrüßten jetzt die Abschaffung der Umerziehungslager als Schritt in Richtung Rechtsstaatlichkeit. Allerdings: Noch immer werden in China Menschen ohne jeden Prozess in Arbeitslager eingewiesen. Denn die Lager der "Umerziehung durch Arbeit" waren nur ein Teil eines chinesischen Lagerhaft-Systems, in das die Polizei unliebsame Personen ohne jeden Prozess einweisen kann.

Lager für Prostituierte und Drogenabhängige

Andere Teile dieses Systems existieren weiter: So landen beispielsweise Drogensüchtige oder Kleindealer in sogenannten "Zwangsentgiftungszentren". Nicholas Bequelin, Senior Asia Researcher der Organisation Human Rights Watch, schätzt im Gespräch mit der Deutschen Welle die Zahl der dort inhaftierten Menschen auf rund 100.000. Bequelin rechnet damit, dass einige der geschlossenen Umerziehungslager jetzt umgewidmet werden zu "Zwangsentgiftungszentren". "Diese Zentren unterscheiden sich praktisch kaum von Arbeitslagern. Man muss nur das Schild am Eingang ändern und an Stelle von 'Arbeitslager' steht da dann eben 'Zwangsentgiftungszentrum'", so Bequelin.

Männer in blauer Lagerkleidung sitzen mit Büchern auf dem Schoß in langen Reihen hintereinander in einem Saal (Foto: Picture Alliance / dpa)
Mehrere Jahre können die Gefangenen in den chinesischen Lagern festgehalten werdenBild: picture-alliance/dpa

Ein weiteres Lagersystem existiert für Prostituierte und – in weit geringerem Ausmass - für ihre Kunden. Schätzungsweise 20.000 Menschen sind in den gut 200 euphemistisch "Gewahrsam und Bildung" genannten Zentren inhaftiert. Genaue Zahlen gebe es nicht, sagt Shen Tingting von der Nichtregierungsorganisation Asia Catalyst. Die Regierung veröffentliche keine Zahlen. Shen hat maßgeblich an einer Studie über die willkürliche Inhaftierung weiblicher Sex-Arbeiterinnen mitgearbeitet, die Asia Catalyst im vergangenen Dezember veröffentlicht hat.

Im Interview mit der Deutschen Welle erklärt Shen, die Menschen würden für sechs Monate bis zwei Jahre in diese Zentren eingewiesen. Die Dauer des Aufenthalts lege allein die Polizei fest. Für ihre Studie befragte Asia Catalyst 30 Sex-Arbeiterinnen in zwei chinesischen Städten. 24 von ihnen mussten bereits Haftzeiten in den Lagern verbüßen.

Frauen in pinkfarbener Häftlingskleidung vor einem Lager in der Provinz Jiangsu (Foto: Picture Alliance / dpa)
Lager für Prostituierte gibt es in China weiterhinBild: picture-alliance/dpa

"Es geht nur ums Geld"

Ein Ergebnis der Studie: Bildung – so wie im Namen der Lager suggeriert - findet für Prostituierte kaum statt. Unbezahlte Zwangsarbeit ist dagegen die Regel. Das Ergebnis: Keine der Befragten gab nach ihrer Haft die Sex-Arbeit auf. Obendrein, so berichtet Shen Tingting, müssten die Sex-Arbeiterinnen auch noch für ihren Zwangsaufenthalt zahlen: Unterbringung und Verpflegung werden den Insassen in Rechnung gestellt. Das gleiche gilt für die obligatorischen Tests auf Geschlechtskrankheiten und AIDS - wobei den Frauen die Ergebnisse meist vorenthalten werden. Deshalb kommt die Prostituierte Yi in der Asia Catalyst Studie auch zu dem Schluss: "Ich glaube, es geht einzig und allein ums Geld. Das ganze Gerede über Umerziehung oder ideologische Bildung ist Schwindel. Es ist einzig ein Weg, um im Namen der Regierung und der Polizeiorgane Geld zu erpressen."

Der Human Rights Watch Spezialist Bequelin weist auf etwas hin, was jedem China-Reisenden auffällt: Prostitution ist im Land allgegenwärtig. "In Wirklichkeit lässt man in China das Sex-Geschäft ohne große Hindernisse florieren", erklärt Bequelin. "Man hat nicht die Absicht, das wirklich auszurotten." Um aber den Schein zu wahren, würden regelmäßig Kampagnen zur Bekämpfung der Pornographie und des Sexhandels durchgeführt – unter dem Namen "Das Gelbe weg fegen". Gelb steht in China für Sex.

Psychiatrie für Petitionssteller

Bequelin nennt noch ein weiteres System, in das die Polizei Menschen per Zwang und ohne Prozess einweisen kann: Die Psychiatrie. In China unterhalte die Polizei ihre eigenen psychiatrischen Kliniken - unabhängig von den Kliniken des Gesundheitsministeriums oder von privaten Kliniken. "Sie können dort so ziemlich jeden hineinstecken, den sie wollen", sagt Bequelin, "solange die Genehmigung eines Psychiaters vorliegt - und das sind ja fast alles Polizei-Psychiater." Zwar habe ein unlängst erlassenes Gesetz die Lage ein wenig verbessert und zumindest theoretisch einige Hürden für die unfreiwillige Einweisung in psychiatrische Kliniken eingebaut. Doch in Wahrheit könne die Polizei noch immer nach Gutdünken Leute hinter den Mauern einer psychiatrischen Klinik einsperren. "Und sie machen das sehr häufig mit Petitionsstellern", stellt Bequelin fest. "Für kürzere Zeiträume, ein paar Wochen oder Monate."

Männer bei der Handarbeit in einem Lager in der Provinz Guizhou (Foto: picture alliance)
Handarbeit als Umerziehungsmaßnahme in einem Lager in der Provinz GuizhouBild: picture alliance/Photocome/ROPI

Auch wenn er die Abschaffung der "Umerziehung durch Arbeit" als Schritt in die richtige Richtung wertet, wird es nach Bequelins Einschätzung noch eine ganze Weile dauern, bis in China lange Haftzeiten ohne Prozess, ohne Anwälte und ohne Berufungsmöglichkeit abgeschafft sind. Wobei der Human-Rights-Watch-Experte zu bedenken gibt: "Selbst wenn man dahin kommt, bleibt die Frage, wie gerecht Gerichtsverfahren in China grundsätzliche sind - angesichts einer von den Vorgaben der Partei abhängigen Justiz."