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Katerstimmung in der EU

Sabine Kinkartz, Berlin22. September 2016

Die Europäische Union hat schon bessere Tage gesehen. Daran hat auch der Gipfel in Bratislava nichts geändert. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz beurteilt die Lage äußerst kritisch. Die Union müsse sich entscheiden.

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Martin Schulz Präsident EU Parlament Porträt (Foto: picture-alliance/dpa/S. Lecocq)
Bild: Getty Images/AFP/F. Florin

Die Stimme von Martin Schulz klingt rau an diesem Donnerstagmorgen. Das sei dem Fußball geschuldet, entschuldigt sich der Präsident des EU-Parlaments und erwähnt "Fangesänge", die er am Vorabend nach einem Sieg seines Vereins "beim Aussteigen aus dem Flugzeug losgelassen" habe.

Schulz ist bekennender Anhänger des Bundesliga-Klubs 1. FC Köln, "der sich auf den Weg gemacht hat, die Tabellen-Spitze zu erobern", so Schulz. Das löst in der Berliner Bundespressekonferenz zunächst leichte Erheiterung aus.

Scherz beiseite

Genauso plötzlich, wie Martin Schulz erheiternde Töne angeschlagen hat, wird er aber wieder ernst. Von Brüssel kommend ist er eigentlich auf dem Weg nach London, um über den Austritt der Briten aus der EU zu beraten. In Berlin hat er einen Zwischenstopp eingelegt, auch um eine Stunde lang Rede und Antwort über den Zustand der Union nach dem EU-Gipfel in Bratislava zu stehen.

Die Bilanz fällt düster aus. Schulz spricht von einer "Reihe Probleme, die wir nicht gelöst haben" und meint damit vor allem die weiterhin ausbleibende Kooperation der EU-Staaten in der Flüchtlingspolitik.

Britisches Parlament Brexit Kabinettsitzung (Foto: Reuters/S. Rousseau/Pool)
Den britischen Außenminister Boris Johnson (rechts neben Theresa May) wird Schulz in London nicht treffenBild: Reuters/S. Rousseau/Pool

In Bratislava habe zwar zum ersten Mal seit längerer Zeit eine Annäherung zwischen den verschiedenen Sichtweisen gegeben. Aber: "Das ist noch nicht das, was wir brauchen." Es sei dringend mehr Solidarität nötig, sagt Schulz und verweist zum wiederholten Mal auf die von den Osteuropäern abgelehnte Quotenregelung.

Doch auch der SPD-Politiker weiß, dass er nichts erzwingen kann. Den Vorschlag mehrerer EU-Staaten, unterschiedliche Beiträge in der Flüchtlingskrise leisten zu dürfen, kann er realistischerweise daher kaum ablehnen. Auch wenn man Schulz ansieht, wie schwer es ihm fällt, die sogenannte "flexible Solidarität" zu akzeptieren. "Wir müssen die Lage nüchtern sehen", resümiert Schulz. Die bisherigen EU-Beschlüsse zur Verteilung von 160.000 Flüchtlingen auf die einzelnen Staaten hätten den Praxistest nicht bestanden.

Verständnis für London

Auch bei der Bewältigung "eines der gravierendsten Probleme, das die EU seit ihrer Gründung hat", nämlich dem erstmaligen Austritt eines Landes, brauche die Union eine einheitliche Linie. Über den "Brexit" will Schulz in London mit Premierministerin Theresa May sprechen. Mit Boris Johnson hat er keinen Termin. "Ich will bekennen, dass es mich auch nicht besonders drängt, ihn zu treffen", sagt Schulz und lässt durchblicken, dass das aber auf Gegenseitigkeit beruhe.

Die Verhandlungen über die Scheidung von der EU und die Regeln für die Zeit danach sollen zwar erst nach dem förmlichen Austritts-Antrag der Briten beginnen. Doch auch vor der Aktivierung des Artikels 50 des EU-Vertrags gibt es bereits viel zu klären.

Slowakei EU Gipfel in Bratislava Viktor Orban (Foto: Getty Images/AFP/V. Simicek(
Ungarns Ministerpräsident Orban will eine Million Flüchtlinge in Lager außerhalb der EU abschiebenBild: Getty Images/AFP/V. Simicek

Dafür braucht es Zeit. Das hat auch Martin Schulz inzwischen eingesehen. Unmittelbar nach dem Votum der Briten für einen Brexit im Juni dieses Jahres hatte der EU-Parlamentspräsident noch reichlich patzig reagiert. "Weil ich es nicht verstanden hatte, warum man ein Volk befragt und dann nicht unmittelbar danach handelt, um den Willen des Volkes umzusetzen." Die Dimension dieses Austritts sei zunächst nicht erkennbar gewesen, entschuldigt sich Schulz, "die bis in die Details von Bürgerrechten, der Handelsbeziehungen oder der Umsetzung internationaler Verträge der EU mit anderen Staaten dieser Erde" gehe. "Das ist extrem kompliziert, deshalb habe ich Verständnis dafür, dass die Regierung in London sich Zeit lässt."

Die Welt ist nicht simpel

Kein Verständnis hat Schulz hingegen dafür, dass von den verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten nach wie vor eine ganze Reihe ihr eigenes Süppchen kochen. "Wir brauchen eine einheitliche Linie", fordert Schulz und geht mit denen hart ins Gericht, "die für alles einen Sündenbock, aber in der Regel für nichts eine Lösung haben". In einer immer komplizierter werdenden Welt, in der politisches Handeln von wechselseitigen Abhängigkeiten und Wirkungen beeinflusst werde, sei es natürlich einfach, "Versimplifizierung zum Regierungsprogramm zu erheben", wie das ja auch der US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump mache, der "Fachkenntnis als intellektuelle Arroganz" bezeichne.

Martin Schulz ist besorgt und das sieht man ihm an. "Wir müssen uns entscheiden, was wir in der EU wollen", fordert er und spricht von einer entscheidenden Phase für die Zukunft der Europäischen Union. "Wollen wir die Renationalisierung, also das Versprechen der Versimplifizierer, wir ziehen physisch oder psychisch einen Zaun um unser Land und schon geht die weltweite Entwicklung mit all ihren Gefahren an uns vorbei und es bleibt so, wie es ist?"

Die Alternative sei, dass die Mitgliedsstaaten begreifen würden, dass sie als Staatenbund politisch und ökonomisch "eine einzigartige Errungenschaft" seien, "um die uns Menschen in aller Welt beneiden". Auf welcher Seite Martin Schulz steht, ist klar. "Für die Idee von Europa kämpfen, das ist das, was ich als meine Hauptaufgabe betrachte", sagt er noch, bevor er sich auf den Weg nach London macht.