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Kann denn Liebe Sünde sein?

29. Oktober 2004

Vom steinzeitlichen Fruchtbarkeitssymbol über römische Lampen mit Erotikmotiven bis zu 3-D-Aktfotos von 1880: In Hamburg zeigt eine Ausstellung 100.000 Jahre Kulturgeschichte des Sex. Unverschämt und ohne Voyeurismus.

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Barocke Freizügigkeit war den Sittenwächtern lange suspektBild: AP


"Ich bin davon überzeugt, dass in der Hölle Sex eine ständige Pflichtübung sein wird", soll der englische Mathematiker Thomas Simpson (1710-1761) gesagt haben. Nicht überliefert ist, ob er deswegen lieber zur Hölle fahren oder in den Himmel kommen wollte. Das kokette 18. Jahrhundert jedenfalls tat sich in Liebesdingen keinen Zwang an: Das "Schäferstündchen" avancierte damals zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung des müßiggehenden Adels. "Heute sind viele der Ansicht, dass wir nach der sexuellen Revolution der 1960er und 1970er Jahre die sexuelle Freiheit gepachtet haben", sagt Rainer-Maria Weiss, Direktor des Helmsmuseum Hamburg. "Aber tatsächlich haben wir nur das Joch der Prüderie abgeworfen, das unsere Vorfahren sich selbst auferlegt haben."

Tizian Ausstellung in Großbritannien
"Venus Anadyomene" von Tizian, fertiggestellt 1520-1525Bild: AP

Freizügige Antike

Vor allem die Griechen hatten ein völlig unkompliziertes Verhältnis zur Sexualität. Ehebruch, Sodomie, Inzest und Vergewaltigung gab es sogar in der Götterwelt und war damit erst recht zur irdischen Belustigung akzeptabel. "Sex und sexuelle Handlungen dienten dem Lustgewinn und dem Vergnügen, nicht ausschließlich der Fortpflanzung", erklärt Weiss. Phallusamulette sollten Beglückung bringen, erotische Szenen auf Vasen und Tellern den Appetit nach dem Essen anregen. Figuren in eindeutigen Positionen halfen der Phantasie auf die Sprünge. Gleich drei Gottheiten waren für ein erfülltes Liebesleben zuständig: Aphrodite, Eros und Dionysos.

David von Michelangelo in Florenz
"David", das Meisterwerk von Michelangelo in FlorenzBild: AP

Einen besonderen Einblick in das ebenfalls freizügige Leben der Römer bieten die Wandgemälde aus Pompeji. "Es war selbstverständlich, dass Männer ins Bordell gingen oder sich Sex-Sklavinnen hielten", erzählt Weiss. Münzen mit Nummern, auf denen verschiedene Sexstellungen zu sehen sind, machten angeblich in den Freudenhäusern die Runde.

Pssst!

Pikanterweise konnte ausgerechnet das Zeitalter der europäischen Aufklärung mit diesem Erbe klassisch-antiker Schönheitsideale nichts anfangen. "All diese archäologischen Fundstücke wurden strengstens unter Verschluss gehalten", sagt Weiss. Aufbewahrt wurden sie in geheimen Archiven wie dem Gabinetto Segreto in Neapel und dem Secret Cabinet im Britischen Museum.

Man Ray "Le Violon d'Ingres", Ausstellung in Düsseldorf
Man Rays "LeViolon d'Ingres"Bild: AP

Bereits seit der Steinzeit dekorieren die Menschen ihre Höhlenwände nicht nur mit heroischen Jagdszenen, sondern auch mit großen Brüsten und knackigen Pobacken. Zu den bekanntesten Kunstwerken der Jungsteinzeit gehört die "Venus von Willendorf". Die Plastik, komplett mit Busen, Becken und Po, ist 25.000 Jahre alt. Inzwischen weiß man allerdings, dass die Zeiten, in denen im Altertum die Brüste opulenter und die Posen eindeutiger wurden, nicht die glücklichsten waren: Die drallen Damen waren Ausdruck der meist verzweifelten Hoffung, dass die Sippe nicht aussterben möge.

Mit dem Mittelalter kam die Prüderie

Das Mittelalter hingegen kannte keine Gnade und auch keine Freude: Sex hatte der Fortpflanzung zu dienen. Sonst nichts. Im Bußbuch des Burchard von Worms aus dem Jahr 1000 hat jede dritte der gelisteten Sünden mit Sexualität zu tun. Allerdings waren die Schäfchen nicht immer so artig, wie es die Moralapostel gerne gesehen hätten. Kaum ein Ritter wird seiner Holden je einen Keuschheitsgürtel angelegt haben, denn "alle Keuschheitsgürtel, die wir kennen, stammen aus dem 19. Jahrhundert", erzählt Museumsdirektor Weiss.

Weihnachtsstimmung in Bethlehem
Husch ... nichts ahnen, nichts wissenBild: AP

Auch das Lotterleben in mittelalterlichen Klöstern ist legendär: In einem Kloster in Nordrhein-Westfalen fanden Archäologen ein Trinkgefäß in Phallusform in der Latrine einer Äbtissin. "Die Nonnenklöster waren die größten Abnehmer von Holzdildos", weiß Henrike Bird, Mitarbeiterin am Helmsmuseum. Der Kurator der Ausstellung, Vincent van Vilsteren vom Drents-Museum in Assen (Niederlande), hält das schlüpfrige Thema für das natürlichste der Welt. "Die Kunstwerke, die wir heute als ferkelig ansehen, galten als ganz normal, als sie geschaffen wurden." Schließlich sei die Geschichte des Sex auch ein Stück Kulturgeschichte der Menschheit. (arn)

"100.000 Jahre Sex". Ausstellung im Helmsmuseum Hamburg. Zu sehen sind rund 260 Objekte von über 60 Leihgebern aus acht Ländern. Geöffnet Dienstag bis Sonntag 10-17 Uhr, bis 16. Januar 2005.