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Kaiserschnitt - eine schwere Geburt

11. Mai 2018

Mit erfahrenem Personal und genügend Zeit hätte Gülsah ihre Tochter vielleicht spontan gebären können. Doch zu viele Fehler führten zu einem Notkaiserschnitt. Ihre Geschichte zeigt, wie krank die Geburtshilfe ist.

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Kaiserschnittgeburt
Bild: picture-alliance/dpa/W. Grubitzsch

"Den ersten Fehler hat bereits die Frauenärztin gemacht", erzählt Gülsah. Ich habe mich über Facebook mit der 34-Jährigen verabredet. Nun begegnen wir uns zum ersten Mal persönlich in einem Café in Köln und reden über einen der intimsten und schwersten Momente in ihrem Leben: Über den Tag, an dem ihre Tochter geboren wurde. Ein Tag, der dramatisch endete, weil sich Fehler und Versäumnisse aneinanderreihten.

Gülsah Dönmez mit ihrer Tochter Emilia, die sie per Notkaiserschnitt 2014 zur Welt kam
"Ich habe es mir anders gewünscht", sagt Gülsah über den Notkaiserschnitt, mit der ihre Tochter zur Welt kamBild: Privat

Angefangen hat alles bei einem Routinetermin mit der Frauenärztin. Die Gynäkologin tastete vaginal nach dem Baby und war sich sicher, es habe sich bereits gedreht - und befinde sich in der richtigen Position für die Geburt. "Ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich hätte die Drehung bemerkt", sagt Gülsah. Sie äußerte ihre Bedenken und bat um einen Ultraschall. Den wollte die Ärztin partout nicht machen, sie könne schließlich einen Kopf von einem Hintern unterscheiden. Aber Gülsahs Gespür hatte sie nicht getäuscht: Das Baby hatte sich nicht gedreht. Das Ende vom Lied war ein Notkaiserschnitt unter Vollnarkose.

Gülsahs Tochter Emilia gehörte 2014 zu den 31,8 Prozent Kaiserschnittgeburten (Sectio caesarea) in Deutschland. Zwar ist die Rate hierzulande inzwischen leicht gesunken - laut Statistischem Bundesamt lag sie 2016 bei 30,5 Prozent - doch das sei immer noch viel zu hoch, sagt die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Denn laut WHO ist im Schnitt bei zehn bis 15 Prozent der Geburten eine Sectio notwendig, um das Leben von Mutter oder Kind zu retten. Für alle weiteren Kaiserschnitte gebe es keine medizinische Indikation, heißt es.

Warum gebären, wenn man schneiden kann?

Dagegen ist in vielen afrikanischen Ländern die Kaiserschnittrate zu niedrig - und die Mütter- und Säuglingssterblichkeit zu hoch. Vor allem in ländlichen Gegenden, in denen die nächste Klinik unerreichbar ist, bleibt die Geburt der archaische Kampf um Leben und Tod, den Frauen seit Jahrtausenden bestehen. Oder verlieren. Nirgendwo sonst auf der Welt ist die Müttersterblichkeit so hoch wie in Sierra Leone. Hier könnten Kaiserschnitte Leben retten.

Doch auch für Afrika gilt: Je näher man an die Städte heranrückt, je erreichbarer die Klinik, desto mehr Kaiserschnitte. Wer es sich leisten kann, wählt die moderne Art des Gebärens. Und die vermeintlich sicherere. Deshalb liegt nicht nur in Deutschland die Sectio-Rate bei über 30 Prozent, auch in den USA, Mexiko, China und Australien wird jedes dritte Baby mithilfe des Skalpells geboren. Gründe gibt es einige. Mit medizinischer Notwendigkeit haben sie jedoch oft nichts mehr zu tun.

Mehr dazu: Elective C-section births on the rise in Kenya

Kaiserschnitt, besser für die Frau…

Um den Kaiserschnitt ranken sich viele Mythen, die so mancher Frau suggerieren, die Sectio sei der angenehmere und bessere Weg für Mutter und Kind. Die Zahl der Frauen, die einen geplanten Kaiserschnitt ohne medizinische Indikation der natürlichen Geburt vorziehen, ist dennoch gering und liegt im einstelligen Prozentbereich. "Etwa fünf Prozent der Frauen, die zu uns in die Klinik kommen, wollen unbedingt einen geplanten Kaiserschnitt", sagt Patricia Van de Vondel, Chefärztin der Klinik Porz am Rhein. Die Planbarkeit und das Gefühl, die Kontrolle zu behalten, seien für diese Frauen die wesentlichen Argumente für die Operation.

Patricia Van de Vondel Chefärztin der Frauenklinik Porz am Rhein
"Man sollte einen Kaiserschnitt nur dann machen, wenn man ihn machen muss", sagt Patricia Van de VondelBild: Lutz Voigtländer

"Es gibt auch Frauen, die panische Angst vor den Schmerzen einer vaginalen Geburt haben", sagt Van de Vondel. Oder davor, nicht genügend Kraft für den Wehenmarathon zu haben. Viele dieser Ängste ließen sich mit einem intensiven Beratungsgespräch ausräumen, sagt Van de Vondel. "Ich habe noch nie - wirklich nie - erlebt, dass eine Frau ihr Kind nicht zur Welt bringen kann, weil sie es kräftemäßig nicht schafft."

…oder wenigstens fürs Kind?

"Ein absoluter Trugschluss ist, dass der Kaiserschnitt für das Kind besser ist", stellt Van de Vondel klar. Natürlich sei das oberste Gebot, dass Mutter und Kind gesund nach Hause gehen. Deshalb führe an der Sectio manchmal kein Weg vorbei. Aber warum solle man das unnötige Risiko eingehen, dass das Neugeborene keine Luft bekommt, weil sich nach einem Kaiserschnitt häufig noch Fruchtwasser in der Lunge befindet? "Klar, das kann man absaugen", sagt die Gynäkologin Van de Vondel. "Aber muss das wirklich sein?"

Anpassungsstörungen wie die sogenannte feuchte Lunge treten deutlich häufiger bei Sectio-Kindern auf. "Wir wissen bisher zu wenig darüber, warum das so ist. Aber bekannt ist, dass verschiedene Prozesse beim Kind unter der normalen Geburt ablaufen, die während eines Kaiserschnitts nicht ablaufen. Unter anderem in der Lunge", erklärt Van de Vondel.

Von Schnittverletzungen bis hin zu Armbrüchen beim Neugeborenen hat Van de Vondel schon alles erlebt. "Natürlich sind solche Verletzungen selten. Bei einer vaginalen Geburt sind sie allerdings noch viel seltener." Es sei eben nicht so, dass das Kind bei einem Kaiserschnitt mühelos aus der Gebärmutter herausgehoben wird. Eine bei vielen Eltern verbreitete Vorstellung.

Lesen Sie hier mehr zum Thema: Faktencheck Kaiserschnitt: Risiko oder Rettung

Ärzte sind besser in Chirurgie als in Geburtshilfe

Viele Frauen werden allerdings vom Kaiserschnitt überrascht, so wie Gülsah. Sie hatte von fürsorglichen Hebammen gehört, die sie mit aufmunternden Worten begleiten und ihr vielleicht ein Bad einlassen. Doch als es so weit war, hatte niemand die Zeit und Muße, sich um die aufgeregte junge Frau zu kümmern, ihre Fragen geduldig zu beantworten und ihr Mut zuzusprechen. Stattdessen empfand sie die Atmosphäre in der Klinik in Köln als angespannt, den Ton als schroff. Als die Fruchtblase platzte, suchte ihr Partner, der zukünftige Vater ihrer Tochter, vergeblich nach einer Hebamme oder einem Arzt. Kurz bevor die Presswehen einsetzten, wurde den anwesenden Geburtshelfern klar: Das ist kein Kopf, der da kommt. 

Viele Frauen, mit denen ich über Facebook in Kontakt trete, erzählen dasselbe: Überfüllte Kreißsäle, zu wenig Personal und eine entsprechend schlechte Betreuung während des Geburtsprozesses. Auch Birgit hat eine solche Erfahrung gemacht: "Ich war die meiste Zeit über ganz alleine in einem Wehenzimmer, weil die Kreißsäle alle belegt waren." Es habe nur zwischendurch immer mal jemand kurz nach ihr gesehen. Als die Fruchtblase platzte sei sie allein gewesen und auch das Fieber, das die damals 39-Jährige während der Wehen bekam, habe niemand bemerkt. Schließlich war der Notkaiserschnitt der letzte Ausweg, wie bei Gülsah.

Der Mangel an Fachpersonal in Geburtskliniken ist keine Ausnahme, sondern auch der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe bekannt, die in einerErklärung bemerkt, dass "auch die fehlende Verfügbarkeit einer vollständig besetzten, notfallbereiten Geburtsmedizin […] eine Entscheidung zur Sectio bedingen" kann. "Eine Armutserklärung", findet Medizinerin Van de Vondel. Das müsse dringend geändert werden.

Van de Vondel hat die Kaiserschnittrate in der Frauenklinik des Krankenhauses Porz am Rhein innerhalb von zehn Jahren um 15 Prozent gesenkt. 2007 wurde noch fast jedes zweite Kind mithilfe des Skalpells geboren, 2017 war es nur noch jedes vierte. Vor allem durch eine bessere Ausbildung der Geburtshelfer und mehr Fachpersonal.

"In vielen Kliniken läuft Geburtshilfe immer noch nebenbei, entsprechend schlecht ist die Ausbildung in diesem Bereich", sagt Van de Vondel. Im Zweifel ist die Sectio für einen unerfahrenen Arzt der sicherere Weg. "Es ist schließlich auch noch kein Arzt verklagt worden, weil er einen unnötigen Kaiserschnitt gemacht hat." Im umgekehrten Fall kann es dem Mediziner allerdings juristisch schnell an den Kragen gehen.

"Bitte nicht schneiden, ich spüre noch alles!"

In der Frauenklinik Porz am Rhein hätte Gülsah eine Chance gehabt, ihre Tochter trotz deren Steißlage auf natürlichem Weg zu gebären. Stattdessen unterschreibt sie, während sie die Presswehen zurückzuhalten versucht, dass man sie voll narkotisieren darf. Weil es jetzt eilt, wird mit der Patientin nicht zimperlich umgegangen. "Ich hatte Schmerzen und habe total gefroren. Als ich gemerkt habe, wie mir der Bauch eingepinselt wurde, habe ich noch gesagt, bitte nicht schneiden, ich spüre noch alles!"

Alleingelassen, hilflos und ausgeliefert. So beschreiben Gülsah, Birgit und viele andere Frauen ihre Erfahrungen im Kreißsaal. Dabei war der Kaiserschnitt nur der Höhepunkt des traumatischen Erlebnisses. Ein gewaltsamer Eingriff in den Geburtsprozess beginnt lange vor dem Schnitt in den Bauch. Das ist nicht die Einschätzung einiger überempfindlicher Mütter, die WHO ist ebenfalls alarmiert. Ein neuer Richtlinienkatalog der Organisation berücksichtigt, was im Klinikalltag allzu häufig vergessen wird: Wie wichtig eine respekt- und liebevolle Atmosphäre im Kreißsaal für Mutter und Kind ist. Und wie schädlich Druck und unnötige Eingriffe sein können.

Kaiserschnittgeburt Narbe
Nicht alle Narben und Wunden, die eine Sectio hinterlässt, heilen so gut wie dieseBild: Colourbox

Die Realität ist für viele Frauen eine andere und kann zu einem Trauma führen, das im schlimmsten Fall die Bindung zum eigenen Kind nachhaltig stört. Unter der Geburt sind Frauen extrem verletzlich, grobe Worte und Vernachlässigung tun jetzt besonders weh. Manchmal so sehr, dass die jungen Mütter einen Termin bei Anette Paffrath machen. Die Psychologin hat ihre Praxis in Düsseldorf und ist unter anderem auf Geburtstraumata spezialisiert. Patientinnen, die per Notkaiserschnitt entbunden haben, sitzen besonders häufig vor ihr. "Der Kaiserschnitt ist gekoppelt mit dem Gefühl, mir wurde etwas genommen", sagt Paffrath.

"Ich habe mein Kind als Letzte gesehen."

Als Gülsah aus der Vollnarkose erwacht, spürt sie zwar, dass ihre Tochter auf ihr liegt, aber sie selbst ist zu schwach, um sich zu bewegen, ihr Kind zu streicheln und zu halten. Immer wieder nickt sie weg. Dazu kommen die Schmerzen. Die Kleine sucht nach der Brust, Gülsah kann ihr nicht dabei helfen. Der Vater ihres Kindes hat die gesamte Verwandtschaft informiert, die junge Frau nimmt verschwommen all die Leute wahr, die ihr Kind anstarren, noch bevor sie überhaupt begreifen kann, dass sie jetzt Mutter ist. Das heiß ersehnte Glücksgefühl bleibt aus. An dieser Stelle ihrer Erzählung kommen der 34-Jährigen die Tränen. Das ist es, was Anette Paffrath meint, wenn sie sagt, den Frauen werde durch den Kaiserschnitt etwas genommen. 

Auch Birgit erzählt unter Tränen, dass sie zunächst nicht einmal wusste, ob ihr Kind lebt, ob es ihm gut geht. Die Ärzte waren damit beschäftigt, ihr eigenes Leben auf dem OP-Tisch zu retten. Wie sehr das Leben einer Mutter an der Frage hängt, wie es dem eigenen Kind geht, schien niemandem bewusst zu sein. 

Anette Paffrath Psychologin aus Düsseldorf
"Eine gute Geburt wirkt sich positiv auf das Selbstwertgefühl aus", sagt Psychologin Anette PaffrathBild: Privat

Die Freude über die lang ersehnte Geburt des Kindes, über diesen Moment, dem jede Schwangere entgegenfiebert, kann durch traumatische Erfahrungen nicht nur gedämpft werden, bei manchen Frauen bleibt sie ganz aus. Sie empfinden nichts, kümmern sich mechanisch um ihr Baby, wie im Schock. Dazu können Panikattacken und Appetitlosigkeit kommen, all die Symptome, unter denen Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden.

Gestörtes Mutterglück

"Viele Frauen, bei denen sich das Mutterglück nicht einstellen will, entwickeln Schuldgefühle ihrem Kind gegenüber", sagt Paffrath. Es sei wichtig, die negativen Geburtserfahrungen aufzuarbeiten, damit die Schuldgefühle das Mutter-Kind-Verhältnis nicht nachhaltig bestimmen. "Es besteht sonst die Gefahr, dass die Mutter ihr Kind gar nicht loslassen kann und es stark kontrolliert", sagt Paffrath. Wenn die Patientin keine psychische Vorbelastung habe, reichten fünf bis 15 Sitzungen meist aus, um das Geburtstrauma zu 'integrieren', so die Psychologin.

Anette Paffrath hat in diesem Jahr schon besonders viele Frauen mit Traumata aufgrund einer als gewaltsam erlebten Geburt begleitet. Ihr Eindruck ist, dass sich die Geburtshilfe hierzulande verschlechtert hat. "Manchmal muss man sagen, dass eine Geburt nicht durch unser Bemühen, sondern trotz unseres Bemühens gut geht", sagt Patricia Van de Vondel. Damit spielt sie nicht nur auf Eingriffe wie Wehenmittel an, sondern auch auf den Druck, den Frauen zu spüren bekommen, deren Geburt nicht den bilderbuchhaften Zeitplänen der Mediziner folgt. Die Ärztin klingt bitter. "Entweder fällt das Kind von alleine raus oder es wird rausgeschnitten. So wird Geburtshilfe in Deutschland gemacht." So lange sich diese Haltung nicht ändere, bleibe auch die Sectio-Rate hoch. "Oder sie steigt sogar noch weiter."