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Julian Barnes

3. März 2012

Können wir unserer Erinnerung trauen oder wird sie von Selbsttäuschung bestimmt? Dieser Frage geht Julian Barnes in seinem preisgekrönten Roman "Vom Ende einer Geschichte" nach.

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Schriftsteller Julian Barnes (Foto: Alan Edwards/f2image)
Julian BarnesBild: Alan Edwards/f2images

Bei der lit.Cologne, dem internationalen Literaturfest, das im März in Köln stattfindet, wird Julian Barnes einer der Stargäste sein. Seit vielen Jahren gehört er  zu den wichtigsten und beliebtesten Autoren Großbritanniens. Mit seinem Roman "Flauberts Papagei" war er bereits 1984 für den renommierten Booker-Preis im Rennen, danach noch zwei Mal. Weil er dabei immer knapp geschlagen wurde, galt er schon als ewiger Favorit. Doch beim vierten Anlauf im letzten Jahr konnte der 68-Jährige die Jury mit seinem bisherigen Meisterstück "Vom Ende einer Geschichte" vollends überzeugen und den Booker-Preis entgegennehmen.

Eine verschworene Gemeinschaft

Nun liegt der Roman in deutscher Übersetzung vor. Er umfasst nur 182 Seiten, aber die haben es in sich: Es geht um die Bedeutung von Erinnerung, von Selbsttäuschung, von Freundschaft, vom Erwachsenwerden sowie der Bilanz eines ganzen Lebens. Aus diesen Themen destilliert Barnes ein schlankes, fast perfekt konstruiertes Buch von philosophischer Wucht. Es beginnt mit einer Erinnerung. Der Ich-Erzähler Tony Webster entführt den Leser an den Beginn der 1960er Jahre, der "swinging sixties" in London.

Tony und zwei Schulfreunde sind damals eine verschworene Gemeinschaft. Als Adrian Finn in ihre Klasse kommt, schließen die Jungen schnell Freundschaft mit ihm. Sie lesen Camus, Nietzsche und Dostojewski, diskutieren über Marx, träumen vom ersten Sex, glauben das Leben zu kennen und Herren ihrer Zukunft zu sein.

Adrian ist der Klügste aus der Clique, ein geistiger Überflieger, der Lehrer wie Schüler mit seinem brillanten Intellekt überrascht. Vor Adrian liegt eine leuchtende Zukunft, dessen sind sich seine Freunde sicher. Nach der Schulzeit bleiben die vier in Kontakt, auch wenn die Abstände zwischen ihren Treffen länger werden und sich die Lebensläufe in verschiedene Richtungen entwickeln.

Selbstmord trotz leuchtender Zukunft

Es ist die Zeit, in der sich Tony von seiner ersten großen Liebe Veronica trennt, die danach ausgerechnet eine Beziehung mit Adrian anfängt. Es kommt zum Bruch zwischen Tony und Adrian. Eine Versöhnung wird durch den rätselhaften Selbstmord Adrians unmöglich.

Buchcover Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte (Quelle: Kiepenheuer & Witsch)
Der Roman ist auf Deutsch bei Kiepenheuer & Witsch erschienenBild: KIWI Verlag

Rund 40 Jahre später blickt Tony auf ein wohlgeordnetes, durchschnittliches Leben zurück: Er hat eine Ehe mit gütlicher Trennung und ein paar Affären hinter sich, eine Tochter, die ihn ab und zu besucht, und er kann eine überschaubare Karriere als Historiker vorweisen. Als Ruheständler betreut er ehrenamtlich die Bibliothek des örtlichen Krankenhauses und sagt dazu lakonisch: "So komme ich mal vor die Tür und es ist gut, etwas Nützliches zu tun; außerdem lerne ich so neue Menschen kennen. Kranke Menschen natürlich, auch sterbende Menschen. Aber wenigstens kenne ich mich im Krankenhaus aus, wenn ich mal an der Reihe bin." Kurz, er glaubt sich über seine Vergangenheit und Zukunft im Klaren zu sein.

Schmerzhafter Blick auf die Vergangenheit

Aus dieser Gewissheit reißt ihn der Brief eines Anwalts, verbunden mit einer Erbschaft. Plötzlich geraten die Dinge in Bewegung. Tony trifft seine Jugendliebe Veronica wieder und muss sich seiner Vergangenheit auf ungeahnte Weise stellen.

Je mehr Tony erfährt, desto unsicherer erscheint das Erlebte und umso ungewisser die Konsequenzen für seine Zukunft. Schließlich erscheint auch der Selbstmord seines Freundes Adrian in neuem Licht.

Mit bewundernswertem Feingefühl und in einer unaufgeregten, gleichwohl eleganten Sprache beschreibt Julian Barnes diese spannende Entwicklung. Und was für ein tolles Buch ist daraus entstanden! Kein Satz ist zu viel, und trotz der Reduktion auf das Wesentliche liest sich die Geschichte so flüssig und organisch, als ob sie anders nicht zu erzählen sei. Textpassagen, die zum wiederholten Lesen einladen und geschliffene Dialoge finden sich auf fast jeder Seite.

Am Ende des Buches platziert Barnes einen großartigen Kunstgriff. Er konfrontiert Tony mit einer weiteren Wendung, die auch den Leser aus seiner Gewissheit reißt, die Geschichte in Gänze verstanden zu haben. Es bleibt ein Nachhall, über den man sich lange Gedanken macht.

Autor: Ralf Bosen
Redaktion: Gabriela Schaaf

Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2011. 192 Seiten. ISBN: 9783462044331. 18,99 EUR.