1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Stimme der Jugend sein

30. März 2009

Rund 50 Jugendliche haben in Berlin-Neukölln den multiethnischen Verein "Jugend Neukölln" gegründet. Sie wollen sich gegen soziale Benachteiligung, Bildungsdefizite und Gleichgültigkeit engagieren.

https://p.dw.com/p/H9Et
Jugendliche Migranten in Berlin (Foto: AP)
Bild: AP

Probleme bei Integration und Bildung nicht nur zu benennen, sondern auch selbst Verantwortung zu übernehmen - das hat sich der Verein "Jugend Neukölln" im Kreativ-Zentrum "Neuköllner Leuchtturm" vorgenommen. Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund wollen sich im Kiez engagieren, aufklären und aufrütteln. Es geht darum, sich einzumischen und mit Jugendeinrichtungen, Schulen und Kitas zusammenzuarbeiten. Aber nicht nur Jugendliche, auch deren Eltern sollen zu bürgerschaftlichem Engagement motiviert werden.

Die Idee zur Gründung des Vereins stammt vom engagierten türkischstämmigen Psychologen Kazim Erdogan, der schon für mehrere andere Projekte in Neukölln, zum Beispiel "Väter im Gespräch", verantwortlich zeichnet. Mit seiner Hilfe wurde nun ein weiteres Projekt in Neukölln aus der Taufe gehoben. Es soll jedoch mehr als die 50 oder 60 Jugendlichen erreichen, die bei der Gründung dabei waren. Wie das zu schaffen sein könnte, weiß Erdogan auch schon: "Wir wollen richtig Werbung machen, in die Schulen, die Familien, in den Jugendclub gehen, damit wir dann wirklich mehr Jugendliche für den Verein und auch für die Projekte gewinnen können."

Nicht nur Schimpfen

Ein Schwerpunkt der Arbeit des Vereins sollen Projekte im Bildungsbereich sein, aber auch die Kommunikation mit den Eltern steht auf dem Programm. "Aus der Ferne zuzugucken und dann auf die Politiker zu schimpfen, bringt nichts", weiß Erdogan aus langjähriger Erfahrung.

Die Jugendlichen sollen sich über das System in Deutschland, über Demokratie, Toleranz und über Menschenrechte informieren und dazu ermuntert werden, dass sie sich auch in den politischen Parteien organisieren und ihre Stimme erheben.

Etwas gemeinsam tun, damit das Leben besser wird

Zu den Paten des neuen Vereins gehört Migrationsforscherin Gaby Strassburger, die sich in Neukölln, einem Berliner Stadtbezirk mit hohem Migrantenanteil, auch durch ihre Studien vor Ort gut auskennt: "Wenn man ansonsten von Neukölln hört, dann sind das immer negative Dinge - vor allem auch über die Jugend in Neukölln. Und hier sind Jugendliche, die etwas zusammen tun wollen, sich organisieren und sich kümmern, dass ihre Zukunft und das Leben jetzt besser wird."

Dadurch, dass die Jugendlichen einen Verein gründen, würden sie auch eine Stimme für die Jugend, ist sich Strassburger sicher. "Und das ermöglicht es dann, dass nicht so viel über die Jugend in Neukölln geredet wird, sondern dass mit ihr geredet werden kann."

Nach Ansicht Strassburgers müsse man noch etwas geduldig sein, was die künftigen Schwerpunkte der Arbeit betreffe, denn die Jugendlichen müssen überhaupt erst einmal begreifen, was es heißt, zusammen zu agieren und dann ihre Themen finden. "In vielen anderen Vereinen gibt es eher wenig Jugendliche. Hier nun ist die Möglichkeit zu lernen, die Stimme zu erheben und das dann auch in andere Vereine einbringen zu können."

Aber so etwas müssen die Jugendlichen erst lernen und üben, wie beispielsweise der 17-jährige Gymnasiast Turan, dessen Cousine im Vorstand des Vereins sitzt. Sie war es auch, die ihn fragte, ob er nicht Interesse hätte, mitzumachen. Das tat er dann auch und weiß inzwischen, dass es wichtig ist, dass sich Jugendliche untereinander verständigen. Außerdem hält er es für wichtig, dass mehr Jugendliche mit Migrationshintergrund das Abitur ablegen, denn man heutzutage schwer einen Job ohne Abitur. Ein mittlerer Schulabschluss sei zwar auch schon gut, aber da brauche man wahrscheinlich einen sehr guten, um überhaupt etwas zu erreichen, ist sich Turan sicher.

Neben Flyern, die der Verein verbreiten will, um noch mehr Jugendliche zu erreichen, findet Turan die Einrichtung einer Homepage ganz wichtig. Er selber kenne Freunde, die solch eine Homepage einrichten könnten. Er wolle sie deswegen auch ansprechen.

Kinder haben häufig Schul- und Familienprobleme

Soziologe und Schriftsteller Horst Bosetzky (Foto: DPA)
Der Soziologe und Schriftsteller Horst Bosetzky: "Deutschland braucht jedes Talent"Bild: picture-alliance/ ZB

Ein anderer türkischstämmiger Jugendlicher aus dem Kiez ist der Ansicht, dass im Verein vorrangig Themen wie Bildung, Beruf und Familienprobleme behandelt werden sollten. "Viele Kinder haben auch Familienprobleme, hören dann mit der Schule auf und hauen von zu Hause ab. Die meisten Familienprobleme haben wohl die Mädchen. Ich weiß nicht, warum das so ist. Das bekomme ich aber so von Freunden mit."

Der bekannte Berliner Schriftsteller Horst Bosetzky, einst selbst in den Straßen von Neukölln aufgewachsen, will die Jugendlichen bei ihrem Engagement unterstützen. Er selbst habe in seinem Leben gelernt, dass man sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen müsse, sagte er bei der Vereinsgründung. Aufstieg ist nach Bosetzkys eigener Erfahrung auch in Neukölln möglich. "Man kann es auch hier schaffen, wenn dann alle mitwirken und die Jugendlichen bestärkt werden. Die eigene Motivation muss da sein, es muss aber auch von außen immer jemand da sein, der Hilfestellung leistet, der Anregungen gibt, der auch hilft finanziell und organisatorisch."

Es gebe genug "Töpfe" für Finanzhilfen in diesem Land, betont der Schriftsteller, der auch Soziologe ist. Man müsse den Jugendlichen helfen, an diese "Töpfe" zu kommen.

Talente nicht verkümmern lassen

Bosetzky warnt davor, in Deutschland, das jedes junge Talent brauche, Potentiale nicht auszuschöpfen und Talente verkümmern zu lassen. Er findet es deshalb gut, wenn sich deutschstämmige, türkisch- und arabischstämmige Jugendliche zusammentun wie in Fußballvereinen und Sportvereinen und sagen, dass sie gemeinsam etwas schaffen, aufsteigen und gewinnen wollen. Sie wollen keine Loser sein, sondern wollen zu denen zählen, die Respekt verdienen, die etwas erreicht haben.

Bosetzky sieht einen solchen Aufbruch auch in Neukölln. "Der Bezirk ist nicht verloren, sondern im Gegenteil: Hier steckt sehr viel Energie drin, sehr viel Kraft. Und ich glaube, in zehn, fünfzehn Jahren sieht das hier ganz anders aus."

Autor: Sabine Ripperger

Redaktion: Kay-Alexander Scholz