1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Jedes Dach wird gebraucht

Christoph Hasselbach11. August 2015

In ihrer verzeifelten Suche nach Flüchtlingsunterkünften sind deutsche Kommunen für jede neue Idee dankbar. Doch nicht jeder Vorschlag taugt.

https://p.dw.com/p/1GDcc
Turnhalle mit Schlafstätten Foto: picture-alliance/dpa/I. Fassbender
Bild: picture-alliance/dpa/I. Fassbender

Die Zahlen schnellen in die Höhe. Das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration rechnete Anfang des Jahres mit 300.000 Flüchtlingen für 2015. Im Mai korrigierte es die Zahl mit 450.000 deutlich nach oben. Bundesinnenminister Thomas de Maizière gab jetzt zu bedenken, dass die Zahl noch einmal "erheblich höher als bisher geschätzt" ausfallen werde. Genauer wollte er sich nicht äußern. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund sah bereits 600.000 Flüchtlinge voraus. In nur einem Jahr würde die Bundesrepublik damit um eine Großstadt von der Einwohnerzahl Stuttgarts oder Düsseldorfs erweitert. Allein in Nordrhein-Westfalen treffen nach Angaben der Landesregierung jeden Tag rund 1000 Neuankömmlinge ein.

Zeltstädte, Turnhallen, Kurzentren - egal was

Wie sollen die Kommunen alle diese Menschen unterbringen? In ihrer Not haben manche Städte große Zeltlager errichtet. Das kann vielleicht im Sommer eine Notlösung sein, geht aber nicht auf Dauer. Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) hat nach dem Besuch eines Zeltlagers bei Dresden gesagt, die Menschen benötigten ein festes Dach über dem Kopf. Der nordrhein-westfälische Sozial- und Integrationsminister Guntram Schneider (SPD) nannte dagegen Zeltstädte und andere Massenunterkünfte "sicher nicht den besten Weg", aber er sehe im Moment keine andere Möglichkeit, so der Minister in einem Interview mit dem Evangelischen Pressedienst. In seiner Verzweiflung sucht Schneider auch "Hallen aller Art" - nicht nur Turnhallen, Verbände mit großen Einrichtungen, Kurzentren. "Bei einiger Phantasie ist noch vieles möglich".

Zeltlager Foto: picture-alliance/dpa/D. Bockwoldt
Hamburg platzt aus allen Nähten und behilft sich mit Zelten.Bild: picture-alliance/dpa/D. Bockwoldt

Eine Renaissance des sozialen Wohnungsbaus?

Es geht längst nicht mehr nur um die Erstaufnahme. Ulrich Maly von der SPD, Vizepräsident des Deutschen Städtetages und Oberbürgermeister von Nürnberg, geht davon aus, dass 40 Prozent der Menschen in Deutschland bleiben werden. Die Fragen von Wohnung und Integration stellen sich daher wohl auch längerfristig. Maly fordert deshalb, dass jedes Jahr 80.000 Wohnungen neu gebaut werden - nicht nur für Asylbewerber. Denn Maly will vermeiden, dass Einheimische und Flüchtlinge in den begehrten Großstädten um billigen Wohnraum konkurrieren, was die Aufnahmebereitschaft der Deutschen schnell zerstören könnte. Der Bund solle sich an den Kosten beteiligen. Auch Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, sagt im Gespräch mit DW: "Deshalb fordern wir eine Ankurbelung des sozialen Wohnungsbaus. Wir müssen das steuern, um diese Konkurrenzsituation zu vermeiden."

Es gibt Leerstand, aber an den falschen Stellen

Allerdings gibt es nach wie vor in Deutschland auch eine Menge leerstehende Gebäude, die sich vielleicht als Flüchtlingsunterkünfte eignen würden. Nur stehen die Häuser oft an der falschen Stelle, nämlich meist in ländlichen Gebieten. Dort fehlt es an Arbeitsmöglichkeiten und die Bevölkerung wandert ab. Gerd Landsberg vom Städte- und Gemeindebund meint deshalb: "Man muss die Leute dort unterbringen, wo sie Arbeit bekommen." Es sei "eine Milchmädchenrechnung zu sagen, wir haben soundsoviel Leerstände und soundsoviele Flüchtlinge, also packen wir sie in die Leerstände." Das Problem leerstehender Häuser gilt besonders für den Osten Deutschlands. Vertreter der besonders angespannten Bundesländer wie des Stadtstaates Hamburg haben daher vorgeschlagen, Flüchtlinge im Osten unterzubringen. Doch das funktioniert schon wegen der Arbeitslosigkeit dort nicht, meint etwa Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) denn auch die Flüchtlinge wolle man später in den Arbeitsmarkt integrieren: "Die Perspektiven dort sind begrenzt." Einige Landesregierungen in Ostdeutschland lehnen den Vorschlag aber wohl auch aus politischen Gründen ab. Denn im Osten ist die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, besonders gering. Dort hat es auch besonders viele Übergriffe auf Menschen aus dem Ausland gegeben.

Leerstehendes Wohnhaus Foto: Gernot Lindemann
Im Osten Deutschlands stehen viele Wohnhäuser leer. In ihnen könnten Flüchtlinge kurzfristig beherbergt werdenBild: Gernot Lindemann

"Herausforderung ist zu meistern"

Gerd Landsberg wäre eine dezentrale Unterbringung von Asylbewerbern - verteilt auf viele einzelne Wohnungen - am liebsten. Das sei "besser für die betroffenen Menschen, die betroffene Stadt, für die Integration." Doch "die Zahlen steigen so dramatisch", dass man dieses Ziel wohl auf später verschieben müsse. Eine Möglichkeit, die Flüchtlingsanzahl zu senken, ist in seinen Augen eine klare Einteilung der Asylbewerber schon bei der Erstaufnahme: Manche, wie Kriegsflüchtlinge aus Syrien, können in den meisten Fällen mit einer Anerkennung rechnen. Sie sollten möglichst schnell integriert werden. Menschen aus den Ländern des Westbalkans dagegen erhalten fast nie Asyl. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer will diese Betroffenen sogar in getrennten Lagern aufnehmen und nach der Ablehnung zurückführen.

Landsberg ist grundsätzlich offen dafür. Zusätzlich solle die EU aber den Ländern des Westbalkans wirtschaftlich helfen. Der Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds hält die Flüchtlingsfrage wegen der hohen Zahlen für eine "Herausforderung". Aber sie sei lösbar: "Wenn 40 Prozent der Flüchtlinge aus den Balkanländern kommen und wenn es gelingt, diesen Strom deutlich zu reduzieren, dann müsste ein so reiches Land wie Deutschland eigentlich diese Herausforderung meistern."