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Ist Europa zu verstehen?

Alexander Kudascheff10. Januar 2007

Brüssel ist der Prototyp der alles beherrschenden Bürokratie und bürgerfern wie ein Raumschiff. So die gängige Meinung. Und deswegen zeigt sich das EU-Brüssel besonders gerne bürgernah und transpararent.

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Die europäische Kommission gibt viel Geld aus, um in Hochglanz-Broschüren und einer unermüdlichen Maschinerie von Pressemitteilungen für Brüssel zu werben. Tenor: Die Europa-Zentrale ist nicht so schlecht wie sein Ruf. Und - das müssen selbst britische Europaskeptiker zugeben - es stimmt. Brüssel ist deutlich besser als sein Ruf.

Das was Brüssel widerfährt - passiert auch Europa. Europa, die Europäische Union - sie sind ein undurchsichtiger Moloch. Ein Monstrum. Eine Gängelungsbehörde mit Krakenarmen. Und: die Europäische Union ist bürgerfern. Auch das ein Urteil - das weit verbreitet ist - auch in Brüssel selbst, aber auch bei den Staats-und Regierungschefs.

So erschallt jedes halbe Jahr - so auch diesmal wieder - der Ruf der deutschen Präsidentschaft: "Wir müssen Europa, die Union den Bürgern näher bringen". Ein durchaus lobenswertes Vorhaben, schließlich ist Europa besser als sein Ruf, schließlich lohnt sich dieses Europa für die allermeisten Bürger (inzwischen rund 490 Millionen Mitglieder) des alten Kontinents. Und Bürgernähe schafft demokratische Legitmation. Keine Frage, kein Zweifel.

Deswegen war es ja auch vernünftig, dass zum Beispiel in Frankreich und in den Niederlanden die Bürger über die europäische Verfassung abgestimmt haben. Weniger vernünftig war es dagegen, dass die Bürger Nein gesagt haben - so jedenfalls die Meinung der Eliten (auch und gerade hier in Brüssel). Die Franzosen und die Niederländer, so hörte und hört man allenthalben, hätten gar nicht über die Verfassung abgestimmt. Ihnen sei der gesamte Text nicht bekannt gewesen. Sie hätten den Regierungen Chirac-Raffarin und Balkenende eine innenpolitisch legitimierte Ohrfeige verpasst. Es wäre, wie man ganz subtil hören und lesen konnte, nicht um den Text, sondern um den Subtext und den Kontext der Verfassung gegangen.

Mit einem Wort: das Volk war zu dumm, überhaupt zu begreifen, worüber es abgestimmt hatte.

Wobei es sicher interessant wäre, in den 27 nationalen Parlamenten mal nachzufragen, wieviel europäische Verfassungskenntnis dort vorhanden ist. Schließlich hat ein grüner Bundestagsabgeordnetet vor kurzem noch zugegeben, man wisse bei Abstimmungen über europäische Sachverhalte eigentlich nie so recht Bescheid. Man stimme zu, weil es eben Europa sei - und man nicht als Europa-Skeptiker dastehen wolle. Und: der Bundestag richtet in diesen Tagen eine eigene (sic!) Vertretung in Brüssel ein, um sich besser über die neuen europäische Gesetze schon am Anfang informiert zu fühlen und zu sein.

Aber ohne Frage: Das Referendum war ein demokratisches Bürger- Nein zur Verfassung. Und was machen die Politiker seitdem: Sie suchen nach Wegen, die Verfassung wiederzubeleben, sie doch noch in Kraft treten zu lassen. Sie verweisen auf die Länder, die mit Ja gestimmt hätten - und unterschlagen en passant immer die Länder, die noch gar nicht abgestimmt haben - und wie England und andere wohl eher mit Nein gestimmt hätten. Sie suchen nach Wegen und Lösungen, den Bürgerwillen zu untergraben. Die Losung: Es darf nicht sein, was ist. Die Verfassung ist gut - also tritt sie in Kraft. Die Frage ist nur wie?

Diese Herkulesaufgabe hat nun Angela Merkel zu lösen. Es soll die alte Verfassung in ihrer Substanz sein, aber sie soll es doch nicht sein. Sie soll statt von Parlamenten nun von einer Regierungskonferenz beschlossen werden. Sie wird - ein Vorzug - keine Frage, schlanker, verständlicher, einfacher sein. Aber im Kern: die alte Verfassung.

Und dann wird man sie den Völkern vorlegen? Oder etikettiert man sie zu einer Geschäftsordnung um, für die man ja kein Volkes Ja braucht? Das ist die diplomatische Quadratur des Kreises, vor der Merkel steht. Unter den Tisch fällt dabei aber eins: die demokratische Bürgernähe, die danach sicher sofort wieder intensiv von den Portuguiesen, den Slowenen, den Franzosen, den Tschechen, den Schweden, Spaniern, Belgier mindestens bis Ende 2010 gesucht werden wird. Denn: Europa wird von den Bürgern nicht verstanden, so hört man allenthalben. Vielleicht aber auch, weil man es gar nicht verstehen soll?