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Ist die Türkei europamüde?

Rainer Sollich20. März 2002

Der türkische Vize-Ministerpräsident Yilmaz besucht ab Mittwoch (20.3.) die EU-Hauptstadt Brüssel. Dort dürfte es kritische Fragen geben. Denn am Dienstag lief eine selbstgesetzte Frist der Türkei für Reformen ab.

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Die Regierung in Ankara setzt sich selbst eine Frist, um mehr Demokratie, Minderheitenrechte und andere kurzfristige Zielvorgaben für einen EU-Beitritt zu erfüllen - und läßt sie erfolglos verstreichen. Und ein Vertreter der mächtigen Militärs tritt vor die Mikrofone und verkündet zur allgemeinen Überraschung, statt nach Europa solle sich sein Land künftig lieber nach Russland oder zum Iran hin orientieren. Da können sich Europäer nur verwundert die Augen reiben - und fragen: Was ist los mit der Türkei?

Plötzlich scheint es, als hätten die Türken jahrzehntelang die eher unwilligen europäischen Politiker mit ihrem Beitrittswunsch genervt, nur um jetzt plötzlich zu sagen: "Nein, irgendwie wollen wir nun doch nicht mehr!" Doch dieser Schein trügt. Das Land ist nicht europamüde geworden, der Wunsch nach einem EU-Beitritt ist ungebrochen. Fragwürdig sind allerdings die Motive.

Vielen türkischen Politikern darf unterstellt werden, dass sie in einem EU-Beitritt vor allem einen Rettungsanker für ihr Land sehen. Das passende Motto dafür lautet: Raus aus der wirtschaftlichen Dauerkrise, rein in die Wohlstands-Union - und dabei möglichst wenig an bestehenden politischen Strukturen und Machtverhältnissen ändern.

Deswegen sind die bisherigen Reformen im Bereich Demokratie und Minderheitenrechte auch eher kosmetischer Natur - wenn sie nicht, wie viele Kritiker argwöhnen, in Wirklichkeit sogar eine Verschärfung darstellen. Der Grund für den türkischen Reformstau ist simpel: Grundlegende Reformen sind derzeit weder von einer Mehrheit der gewählten Politiker in der Regierung noch im Parlament gewünscht, also politisch schlichtweg nicht durchsetzbar. So demokratisch ist die Türkei durchaus - und die EU täte gut daran, dies bei aller berechtigten Kritik zunächst zu akzeptieren. Zumal es auch Fortschritte gibt: So hat der Europarat jetzt festgestellt, dass in türkischen Gefängnissen inzwischen weniger gefoltert wird.

Aber: Ob es um die Abschaffung der Todesstrafe geht oder um den öffentlichen Gebrauch der kurdischen Sprache - türkische Politiker, die bereit sind, mutige substanzielle Konzessionen zu machen, sind nach wie vor in der Minderheit. Und selbst bei ihnen scheint die Erkenntnis eher gering ausgeprägt, dass ein EU-Beitritt große Abstriche an der nationalen Souveranität bedeutet. Zumindest wird dieses Thema von türkischen EU-Befürwortern gern verschwiegen oder klein geredet. Nur die Kritiker der EU bringen dieses Argument jetzt öfter ins Spiel.

Dabei kann nicht oft genug betont werden, dass die Türkei von ihrem geistigen Erbe her seit Kemal Atatürk in Richtung Europa strebt. Und obwohl ein EU-Beitritt auch aus wirtschaftlichen Gründen noch immer in weiter Ferne liegt: Die Perspektive ist da - das hat Brüssel nach langem Zögern inzwischen deutlich gemacht. Deswegen sind der Türkei visionäre Politiker zu wünschen, die sagen: "'Ja, wir wollen den Anschluss an die EU schaffen - mit allem was dazu gehört!" Und dazu gehört eben auch, dass die EU eine Wertegemeinschaft ist.

Solidarität sollte aber auch von europäischer Seite stärker betont werden - vor allem praktisch: Wenn die Türkei wirklich Partner und EU-Erweiterungskandidat ist, dann sollte die EU auch schon vor Aufnahme offizieller Beitrittsgespräche nach neuen Wegen suchen, um dem Land über seine wirtschaftlichen Probleme hinwegzuhelfen.