1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wahlen Tunesien

23. Oktober 2011

Tunesien, das Mutterland des arabischen Frühlings, erlebt die ersten freien Wahlen. Die Islamistenpartei Ennahda hat gute Chancen, denn sie versucht, sich modern zu zeigen. Besonders durch die Wahl ihrer Kandidatinnen.

https://p.dw.com/p/12irH
Raschid Ghannouchi (2. v. l) neben Suad Abdel Rahim auf dem Podium bei der Verkündung des Parteiprogramms der Ennahda im September 2011 (Foto: DW)
Spitzenkandidatin Suad Abdel Rahim umgeben von ihren männlichen ParteikollegenBild: DW/K.El Kaoutit/D.Hodali

Der "Palais de Congres" in Tunis ist hell erleuchtet, goldene Stühle stehen aufgereiht nebeneinander. An diesem Tag findet hier die Vorstellung des Parteiprogramms der islamistischen Ennahda-Partei statt. Die Veranstaltung wird mit einem Gebet eröffnet. Hunderte Frauen und Männer sind in den Saal geströmt, um zu hören, was der Vorsitzende der Partei, Raschid Ghannouchi, zu sagen hat. "Wir machen keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern", sagt er. "Im Gegenteil, wir bestätigen die Rechte der Frauen in der Bildung, im öffentlichen Leben und natürlich auch ihre Gleichberechtigung." Die Ennahda-Anhänger sind begeistert, es gibt tosenden Applaus.

Allein zwischen Männern

Parteianhängerinnen im Palais de Congres in Tunis im September 2011 (Foto: DW)
Die Ennahda-Parteianhängerinnen tragen überwiegend KopftuchBild: DW/K.El Kaoutit/D.Hodali

Wie um Ghannouchis Aussage zu bestätigen, hat zwischen den Männern auf dem Podium auch eine Frau Platz genommen. Ihr mittelbraunes, schulterlanges Haar trägt sie offen. Ihr schwarzer Hosenanzug ist figurbetont und modern. Viele Anwesende schauen sich um, fragen sich: "Wer ist diese Frau?" Es ist Suad Abdel Rahim. Sie ist Spitzenkandidatin auf einer der Listen der Partei für die Wahl am 23.Oktober. Sie lächelt und klatscht immer wieder Beifall bei den Reden ihrer Parteikollegen - doch zu Wort kommt sie auf dem Podium während der ganzen Veranstaltung nicht.

Erst danach stellt sie sich vor und erklärt, warum sie einer islamistischen Partei beigetreten ist. Die Ennahda Partei habe vielen kämpferischen Frauen die Möglichkeit gegeben mitzuarbeiten. Und gekämpft habe sie auch schon in jungen Jahren als Gewerkschafterin. Aber die Partei sei offen für alle tunesischen Frauen. "Ich glaube an die Aufrichtigkeit der Ennahda, sonst hätten sie keine Frau wie mich an die Spitze ihrer Liste gestellt", sagt Suad.

Keine Frau wie sie – damit meint Suad, dass sie die einzige Kandidatin ist, die kein Kopftuch trägt. Auf den ersten Blick wirkt sie weltoffen und moderat. Vor wenigen Monaten hatte ihr die Ennahda angeboten, sie als Kandidatin aufzustellen. Die studierte Apothekerin, die einen Großhandel für Medikamente betreibt, akzeptierte, weil sie vom Programm der Ennahda überzeugt ist. "Mir ist wichtig, dass sie die arabisch-islamische Identität wahren wollen", sagt sie.

Aufräumen mit Vorurteilen

Suad Abdel Rahim in (Foto: DW)
Suad Abdel Rahim in der Parteizentrale der Ennahda in TunisBild: DW

Schon als junge Frau hatte sich Suad einer islamischen Studentengewerkschaft angeschlossen. Sie erzählt, wie das Regime des gestürzten Diktators Zine al-Abidine Ben Ali sie, als sie zu kritisch wurde, verhaften ließ. Wie sie der Universität verwiesen wurde und erst später ihr Studium beenden konnte. Für Suad brachte der Umsturz in Tunesien tatsächlich eine Art "Wiedergeburt", die ihre "Ennahda"-Partei schon in ihrem Namen beschwört.

Mit der Legalisierung der Partei am 1. März begann Suad Abdel Rahim ihre Karriere als Politikerin. Doch die Konkurrenz ist groß. Das Land ist in 27 Wahlkreise aufgeteilt, dazu kommen sechs für die vielen Tunesier im Ausland. Dutzende Listen wurden aufgestellt, damit am Ende 217 Abgeordnete über die künftige Aufteilung der Macht in Tunesien entscheiden. Daher organisiert die Mitt-Vierzigerin ihren Wahlkampf von der Parteizentrale der Ennahda im Stadtteil Montplaisir aus. Mittlerweile kennt jeder Tunesier das Gebäude. Die neuen Räume riechen noch nach Farbe. Überall hängen Bilder des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, den die Ennahda als Hinweis auf die Vereinbarkeit von Weltoffenheit und Islam gerne nach außen trägt.

Die Ennahda, so scheint es, verfügt über bedeutende finanzielle Mittel. Nach der Revolution hat sie schnell im ganzen Land Büros aufgemacht. Kritiker fürchten, das Geld komme aus den Golfstaaten, um in Tunesien den Laizismus zu unterwandern und streng-islamische Strukturen zu schaffen. Suad hat ein Meeting nach dem anderen. Sie sitzt in einem Konferenzraum, mit ihr ein Mitarbeiter der Presseabteilung, der ihr zur Seite gestellt wurde. Sie will mit den Vorurteilen gegenüber der Partei aufräumen und erzählt davon, wie man auch ihr als Kind Angst gemacht habe vor den bärtigen Männern, die gemeinhin mit einem rückwärtsgewandten Islam assoziiert werden. Tunesien und auch die restliche Welt brauche keine Angst zu haben, dass das Land unter der Führung der Ennahda wie der Iran oder Afghanistan werde, sagt sie. "Die Ennahda ist eine gemäßigte Partei, und die Angst vor ihr hat das alte Regime geschürt. Sie hat ein falsches Bild von uns gezeichnet." Der Presseberater nickt immer wieder zustimmend.

In der Kritik

Jaouhar Ben Mubarak (Foto: DW)
Verfassungsrechtler Jaouhar Ben Mubarak ist großer Kritiker der EnnahdaBild: DW

Viele Bürger bewundern die Islamisten, die sich nicht haben unterkriegen lassen, auch nicht, als sie im Gefängnis saßen. 20 bis 30 Prozent der Stimmen könnte die Ennahda-Partei laut Umfragen bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung bekommen. Den Prognosen nach könnte "Ennahda" damit jede säkulare Partei Tunesiens ausstechen, und ihre Gegner befürchten, dass dem Land dann ein religiös motivierter Rechtsruck drohen könnte.

So auch der tunesische Verfassungsrechtler Jaouhar Ben Mubarak. Er hält auch die Aufstellung von Suad Abdel Rahim für pure Kosmetik. Durch sie solle die Partei offen und modern wirken. "Es hat sich gezeigt, dass die Ennahda zwar von einem säkularen Staat spricht, aber dass sie die Scharia als Quelle für die tunesische Verfassung nutzen wollen", sagt Ben Mubarak.

Suad musste von vielen Seiten Kritik einstecken, auch aus den eigenen Reihen. Zum Beispiel von Parteianhängerinnen mit Kopftuch, die ihren westlichen Kleidungsstil verwerflich finden. Und von Salafisten, die ihre Kandidatur gar nicht dulden. Aber auch von ihrer eigenen Tochter. Die 14-Jährige hat Angst davor, die Ennahda könne ihr vorschreiben, was sie zu tragen habe oder ihr den Kontakt zu Jungs verbieten. Diese Ängste nimmt ihre Mutter jedoch nicht ernst. "Meine Aufgabe ist es auch, den Jugendlichen zu erklären, dass das Programm der Ennahda sie in keiner Weise beschränken wird", sagt Suad.

Zum Schutz der Tradition verpflichtet

Suad Abdel Rahim auf ihrem Sofa neben ihrem Mann (Foto: DW)
Bei Suad Abdel Rahim daheim - ihr Mann steht fest an ihrer SeiteBild: DW/K.El Kaoutit/D.Hodali

Ennahda will laut Parteiprogramm den "Missstand" der späten Heirat und der vielen Scheidungen in Tunesien beheben. Suad Abdel Rahim selbst hat früh geheiratet und lebt mit ihrem Mann Anouar Landa und ihren zwei Kindern in einem großen, prunkvollen Haus mit Swimming-Pool. Ihr Ehemann unterstützt sie, kümmert sich um die Familie und den Pharmazie-Großhandel, damit Suad sich um ihre politische Karriere kümmern kann - eine Vorzeigefamilie. Das Wohnzimmer ihres Hauses ist orientalisch eingerichtet. Mehrere Sofas zieren den großen Raum. Überall hängen Bilder und Spiegel in goldenen Rahmen. Eigentlich, so sagt sie, habe sie einen modernen Geschmack.

Suad, ihr Ehemann und mehrere Pressemitarbeiter der Partei haben Platz genommen. Die Männer hören aufmerksam zu, was die Kandidatin zu sagen hat und warum sie ihren Platz ausgerechnet in einer religiösen Partei gefunden hat. Einer feministischen Organisation würde ich mich nie anschließen, erklärt sie. Ihre Interessen sieht sie bei einer islamistischen Bewegung besser vertreten: "Ich respektiere die Traditionen der tunesischen Gesellschaft und an ihnen halte ich fest. Wir von Ennahda wollen diese arabisch-islamischen Traditionen schützen."

Aber bleibt da auch noch Platz für Demokratie? Die Frage regt Suad Abdel Rahim auf. Sie redet laut und schnell, bis ihre Presseleute sie beruhigen. Dann erklärt sie: "Der Islam und Demokratie schließen sich doch nicht aus." Auch im Islam gebe es Meinungsvielfalt, und man könne deshalb auch nicht sagen, dass es keine Demokratie in islamisch geprägten Ländern gibt. "Wir Tunesier werden das erste Land in der Region sein, das beweist, dass beides möglich ist."

Autorin: Diana Hodali
Redaktion: Daniel Scheschkewitz