1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Irgendwann wird auch der Tiger träger

Das Gespräch führte Steffen Leidel18. Mai 2005

Im Interview mit DW-WORLD erklärt der Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Baltischen Handelskammer, Ralph-Georg Tischer, warum Estland, Lettland und Litauen für deutsche Firmen attraktiv sind

https://p.dw.com/p/6fAK
Ralph-Georg Tischer

DW-WORLD: Die baltischen Staaten werden gerne als Tigerstaaten bezeichnet. Werden die nun den alten EU-Mitgliedern das Fürchten lehren?

Alle zehn neuen Mitgliedstaaten - nicht nur die baltischen Staaten, bringen neue Ideen mit. Es gibt die Politik liberaler Ansätze, die Länder bauen auch auf einfache Strukturen auf und diskutieren nicht nur. Das ist positiv und insofern lehren sie uns das Fürchten. Auf der anderen Seite sind die baltischen Länder in ihrem jetzigen Entwicklungsstand nicht vergleichbar mit dem, was wir in Deutschland oder Frankreich oder Großbritannien heute vorfinden. Dieser Entwicklungsstand wird sich relativ schnell egalisieren und mit jedem Schritt wird der Tiger träger und nicht mehr ganz so aggressiv sein. In 50 Jahren nach einer normalen freien Entwicklung in der EU, werden sie Strukturen vorfinden, die wir alten EU-Länder kennen, sie aber noch nicht.

Inwiefern ist die rasante wirtschaftliche Entwicklung ein Strohfeuer?

Nein, das ist kein Strohfeuer. Die baltischen Staaten sind zurzeit in der Situation Deutschlands in den 1960er Jahren. Vieles zu dieser Zeit lief auch "anders" ab und da konnte man schneller Dinge umsetzen, da waren die Kontrollmechanismen noch nicht so ausgeprägt, auch der Sozialstaat hatte einen anderen Status. Wir haben es mit einem dynamischen Feuer zu tun, kein Strohfeuer. Irgendwann setzt aber sicher auch eine gewisse Sättigung ein. Auf die Verlierer konnten sie bislang vielleicht noch nicht so Acht geben, doch in Zukunft sicher mehr, da geht es ja auch um Wählerstimmen. Einen Sozialstaat, den wir haben, den haben die baltischen Staaten überhaupt nicht. Sie waren ja Teil der Sowjetunion und konnten somit auch kein staatliches Eigenleben führen.

Wo sehen sie die Stärken dieser Länder heute?

Die liegen vor allem darin, dass sie kleine Staaten sind, die sehr flexibel agieren können, die eine klare Ausrichtung in ihrer Wirtschaftspolitik haben, einen äußerst liberalen Ansatz auch umsetzen. Das setzt dynamische Märkte frei. Es ist auch Ziel von immer mehr deutschen Firmen, daran zu partizipieren, was bislang nur die skandinavischen Länder getan haben. Hier passiert viel auch in den Soft-Faktoren: die Balten sind sehr "deutsch-minded", wir sind gern gesehene Gäste. Es sind Gegenden mit einer Mentalität, die unserer sehr nahe liegt mit all den Attributen wie Pünktlichkeit, Genauigkeit, Zuverlässigkeit. All das spielt eine relativ große Rolle und wir merken, dass die mittelständischen deutschen Unternehmen, die hier in den Markt hineingehen, einen Partner haben, der ihnen ein bisschen ähnlich ist. Auch 50 Jahre Sowjetunion haben nicht daran nichts geändert.

Dabei sagt man doch, Korruption sei in diesen Ländern ein großes Problem.

Korruption ist überall ein Problem, die haben sie auch in Deutschland. Es gibt kein korruptionsfreies Land. Entscheidend ist: Wir haben einen Entwicklungsstand, der diese Korruption auch zulässt. Wir haben den Stand Deutschlands Ende der 1950er, 1960er-Jahre. Eine freie Marktwirtschaft, die die Kräfte frei entfalten lässt. Es ist kein massives Problem wie in Russland, wo sie nur mit gewissen Elementen ins Geschäft kommen. Hier finden sie Korruption vor, aber Jahr für Jahr kommt der Rechtsstaat mehr zur Bedeutung.

Lesen Sie im zweiten Teil, welche Sektoren für deutsche Firmen besonders interessant sind und warum sich viele junge Balten lieber nach Irland oder Großbritannien orientieren als nach Deutschland.

Welche Branchen sind denn für deutsche Firmen besonders interessant?

Hier gibt es noch Standorte im Rahmen des Maschinenbaus oder der Elektrotechnik, die Optionen bieten nicht gleich über Produktionsverlagerungen nachzudenken, sondern auch bei den lohnintensiven Bereichen zuzukaufen. Diese Industrien haben eine Tradition. Unter Sowjetzeiten gab es hier massive Investitionen. Da haben wir heute noch Überbleibsel. Es gibt ein Industriearbeiterpotential, das eingesetzt werden kann. Selbsttragend ist die Holz- und holzverarbeitende Industrie, die Textilindustrie; mit abnehmender Tendenz die Nahrungs- und Genussmittelindustrie; die Bauindustrie, die ein großes Wachstum aufweist. Es gibt also boomende Branchen, die die Regionen besetzen und von hier aus weiterspringen in einen Wachstumsmarkt wie die Ukraine. Hier ergeben sich oft additiv Zusatzgeschäfte in Märkte, in die wir uns oft gar nicht hineintrauen - wie Weißrussland. Wichtig sind auch die fünf großen Ostseehäfen, die nicht nur von Russland benutzt werden, sondern auch von dahinter liegenden Märkten - zum Beispiel von Usbekistan als Umschlagplatz für Baumwolle in Richtung Westen.

Sie haben die liberalen Wirtschaftsmaßnahmen als positiv herausgestellt. Doch wie viel Liberalität ist auch sozial verträglich? Es gibt ja einen sehr großen Unterschied zwischen Arm und Reich?

Der ist sehr groß. Aber die Liberalität hilft heute, die Wirtschaft zu entwickeln. Die Probleme, die der Staat sowieso nicht regeln kann, weil er das Geld nicht hat, geht er auch dann erst an, wenn er über die Finanzmittel verfügt. Von daher werden soziale Fragen auch zunehmend in den Mittelpunkt politischer Diskussion rücken, aber sicher noch nicht in der heutigen Zeit. Die Ansprüche der sozial Schwächeren sind auch noch nicht da. Niemand ist da, der einfach in die Tasche greifen und sich das Geld von irgendwoher holen kann. Wir müssen aber anerkennen, dass die baltischen Staaten diese Liberalität von heute auch Step by Step verlieren. Der Neoliberalismus, der Anfang der 1990er- Jahre noch eine wichtige Rolle gespielt hat, um die Länder voranzubringen, baut sich allmählich ab.

Ist Deutschland für die Balten interessant?

Die Sprachausbildung der jungen baltischen Arbeitnehmer ist sehr gut, vor allem im Englischen. Der englischsprachige Raum - oder da, wo man das Englisch im täglichen Leben zum Einsatz bringen kann, wie in Schweden, Dänemark oder den Niederlanden - ist besonders interessant für die Balten. Diese Märkte sind für die Migration viel wichtiger als der deutsche Markt, der ja allein durch die Sprachbarriere zu einer Abschottung führt. Viele gehen lieber nach Irland oder Großbritannien.