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Interview: "Serbien ist zwischen Aufbruch und Resignation"

12. Oktober 2006

Karin Kortmann, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, hat Belgrad besucht. Im Gespräch mit DW-RADIO erläutert sie die Perspektiven für das Land.

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Mikrofongruppe

DW-Radio/Serbisch: Wo sieht Ihrer Meinung nach das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Prioritäten für die zukünftige Zusammenarbeit mit Serbien?

Karin Kortmann: Wir haben mit den 38 Millionen Euro Wirtschaftshilfe, die wir im Rahmen der Regierungsverhandlungen zugesagt haben, vor allem das Interesse, dass weitere deutsche Investoren sich in Serbien niederlassen, damit sie Arbeitsplätze schaffen, die hohen Arbeitslosenzahlen verringert werden und sie die Einkommenssituation verbessert. Wenn man deutsche Unternehmen nach den Voraussetzungen für Investitionen in einem Land wie Serbien fragt, dann sagen sie als erstes: "Wir brauchen politische Stabilität". Die ist ein Stück weit in Frage gestellt durch die vorgezogenen Neuwahlen, die es wohl im Dezember geben soll. Das zweite, was sie brauchen, ist eine gut ausgebaute Infrastruktur. Deshalb investieren wir insbesondere in den Energiesektor und in den Wassersektor. Das dritte ist ein gutes Investitionsklima. Deswegen wollen wir auch die Reformen der beruflichen Bildung voranbringen, die Reformen der Steuerverwaltung, wir beraten die Serben, wie sie ein Katastersystem anlegen können oder eine Bodenreform durchführen, die die Besitz- und Eigentumsverhältnisse klärt. Wir bieten Rahmenbedingungen dafür an, dass deutsche Investoren sagen: "Ja, unter diesen Bedingungen sind wir bereit, ein Stück weit ein wirtschaftliches Wagnis einzugehen".

Was sind Ihre Eindrücke von den serbischen Vertretern, die Sie getroffen haben? Sind diese bereit, die Herausforderung anzunehmen, diese drei Punkte umzusetzen?

Die serbischen Vertreter sind alle gut geschultes Personal. Sie wissen genau: Serbien wird aus eigener Kraft den wirtschaftlichen Anschluss an Europa nicht erreichen. Das Land braucht eine Perspektive in Europa und starke wirtschaftliche Partner. Aber: Das Lohnniveau ist nach wie vor sehr niedrig. Gute Fachleute wandern ab in andere Länder. Es geht also vor allem darum, das gut ausgebildete Fachpersonal zu halten und neues hinzuzubekommen. Serbien befindet sich im Grunde in einer absoluten Umbruchsituation. Die letzten sechs Jahre waren deswegen auch fast wie eine Herzfrequenz – es geht mal rauf und es geht wieder runter. Was wir von deutscher Seite anbieten können, ist wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaftsförderung. Im Moment gibt es interessante Entwicklungen auf dem Energiemarkt, weil nämlich große deutsche Energiefirmen daran Interesse haben, in den Energiesektor in Serbien zu investieren – natürlich auch mit dem Eigeninteresse, nicht verbrauchte Energie wieder in den westlichen Markt mit einspeisen zu können. Aber Serbien braucht den Anschluss an den Westen.

Welchen Eindruck haben Sie vom serbischen Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Ausland gewonnen?

Dieser Minister hat relativ klare Botschaften gegeben: "Wir müssen etwas für junge Menschen tun, wir müssen ihnen Entwicklungschancen in diesem Land geben". Wir haben davon gesprochen, dass die Jungen zwar Aufbruchstimmung verbreiten, sie aber an alte Strukturen stoßen. Es geht außerdem darum zu sehen, wie sich Serbien in die gesamte Balkanregion einfügt und sich mit den Nachbarländern verträgt, welche Kooperationsmöglichkeiten es gibt. Viele Infrastrukturleistungen werden nicht an nationalen Grenzen Halt machen. Gerade wenn es um den Bereich Energie geht, haben wir seitens der Bundesregierung einen grenzübergreifenden, regionalen Ansatz gewählt. Der Minister hat deutlich gemacht, dass Investitionen Perspektive und Breitenwirkung haben müssen. Wenn wir im Energiesektor etwas anbieten, dann sollen die Endverbraucher wissen, dass das Kapital, das investiert wird, für stabile soziale Energiepreise im Land sorgt, Arbeitsplätze sichert und außerdem das alte, marode System insgesamt erneuert wird. Diese Strukturimpulse sind für uns sehr wichtig, damit können wir gut arbeiten.

Wie schätzen Sie die aktuelle politische Lage in Serbien ein?

Ich glaube, dass sich die Lage in der deutschen Wahrnehmung dramatischer darstellt, als es die serbische Bevölkerung wahrnimmt. Aber Serbien ist ein Land, was auf mich - nach diesen drei Tagen Aufenthalt - gespalten wirkt. Zwischen Aufbruch und Resignation. Junge Menschen haben große Hoffnungen, die ältere Generation jammert vergangenen Zeiten nach, als es ihnen besser ging. Nach wie vor ist an den Wirtschaftszahlen erkennbar: Die Zeit vor dem Krieg war für sie viel, viel besser als das, was sie in den vergangenen sechs Jahren erreicht haben. Dass da Ärgernis, Trotz und Resignation mitschwingen, ist gar keine Frage, deswegen ist es umso wichtiger, ihnen eine Perspektive zu bieten. Die da heißt: "Wir sind ein verlässlicher Partner in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, das geht über die üblichen Ein-Jahres-Zusagen hinaus". Aber die Serben brauchen eine umfassendere Perspektive – nämlich, dass sie irgendwann Mitglied der EU werden. Wenn diese Perspektive nicht eingelöst wird, sei es seitens der serbischen Regierung oder seitens der EU, dann glaube ich, dass es zu einem erheblichen Rückschritt in der gesamten Entwicklung kommen wird. Das A und O für die Regierung Serbiens muss sein, Vertrauen aufzubauen und Perspektiven für die Bevölkerung zu entwickeln. Dazu braucht sie ein finanzielles Rückgrat, fachliches Know-How aus dem Ausland und Partner, die sie politisch beraten. Es kommt darauf an zu sagen: "Wir wollen ein demokratisches Serbien". Die demokratischen Kräfte müssen gestärkt werden – und den reaktionären, konservativen Kräften eine klare Absage erteilt.

Mirjana Dikic, zurzeit Belgrad
DW-RADIO/Serbisch, 11.10.2006, Fokus Ost-Südost