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Interview: "Eine wünschenswerte Verfassung"

Das Interview führte Maik Meuser14. Oktober 2005

Der Islamwissenschaftler Henner Fürtig wünscht sich eine Annahme des irakischen Verfassungsentwurfs durch die Bevölkerung - auch wenn der Text zu einigem Streit geführt hat.

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Für oder gegen die Verfassung?Bild: AP

DW-WORLD: Gibt es aus westlicher Sicht bedenkliche Punkte im Verfassungsentwurf, der den Irakern am Samstag zur Abstimmung gestellt wird?

Henner Fürtig: Aus westlicher Sicht geht es nicht primär um bedenkliche Punkte im Verfassungstext, sondern darum, dass die Verfassung angenommen wird und es im Dezember zu Neuwahlen kommt. Nur dann hat der Irak weiterhin die Chance, den Prozess politischer Rekonstruktion erfolgreich abzuschließen. Und auch nur dann bleibt die Chance der nachträglichen Selbstlegitimierung der amerikanisch-englischen Invasion des Iraks im März 2003 bestehen.

Ob die Verfassung angenommen wird, scheint vor allem von den Sunniten abzuhängen. Warum?

Die Verfassung bedeutet die schriftliche Fixierung eines kompletten Machtwechsels. Die arabischen Sunniten, die den Irak lange Zeit beherrschten, werden dann alle wichtigen Schalthebel verlieren und sich in ihren Minderheitenstatus fügen müssen. Wie stark dieser Status dann auch eine Diskriminierung bedeutet, hängt von den schiitischen und kurdischen Gruppen ab. Für diese und für den Irak als Ganzes wäre aber Konfrontation nicht die beste Strategie. Man kann sagen, dass die Sunniten jetzt die Konsequenzen ihrer Verweigerung bei den Wahlen im Januar tragen müssen.

Irak: Unterstützung für den Schiiten Führer Muqtada al-Sadr
Diese Schiiten folgen ihrem geistlichen Führer Muqtada al-SadrBild: dpa

Im Verfassungstext heißt es, dass der Islam als Grundlage des Rechtssystems verstanden wird. Ist das problematisch?

Eine Festschreibung des Islam als grundlegende Quelle für das Rechtssystem muss keine unmittelbaren Folgen haben. Man kann das sehr gut am Beispiel Ägypten sehen. Auch dort wurde die Sharia, eine vom Koran abgeleitete religiöse Pflichtenlehre, in der Verfassung festgeschrieben. Ägypten ist deshalb aber kein muslimischer Gottesstaat geworden. Auch im Irak wird es vor allem davon abhängen, wie stark die gesellschaftlichen Gruppierungen werden, die eine stärkere Islamisierung der Politik fordern.

Wie beurteilen Sie die in der Verfassung vorgesehene starke Autonomie der Regionen?

Das Föderalismusprinzip wird sicherlich Probleme erzeugen. Vor allem die Kurden wollen ihre Autonomie so weit wie möglich ausdehnen. Die arabischen Bevölkerungsteile, die eine klare Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, wollen dagegen am Einheitsstaat festhalten und diesen so stark wie möglich machen.

Wie beurteilen Sie die Gefahr, dass sich schiitische Provinzen im ölreichen Süden abspalten könnten?

Das ist eine in westlichen Medien gern zitierte Ente. Es gibt diese Bestrebungen auf Seiten der Schiiten nicht wirklich. Dieses Gerücht ist entstanden, nachdem die Schiiten im Streit um die Verfassung den Kurden einen Schuss vor den Bug versetzt haben. Man muss das als Druckmittel verstehen, um weitere kurdische Forderung nach stärkerer Autonomie zu unterbinden. Man wollte zeigen, wohin diese Tendenzen im Extremfall auch führen könnten. Aber die Schiiten haben in Wirklichkeit kein Interesse daran, sich im Süden abzuspalten. Warum sollten sie sich auch mit einem kleinen Teil im Süden zufrieden geben, wenn ihnen in einem demokratischen Irak wichtige Kontrollfunktionen für das ganze Land offen stehen?

Irakkarte Bevölkerungsgruppen Kurden und Schiiten Karte
Streiten um die Verfassung - Kurden, Schiiten und SunnitenBild: AP/DW

Wird der Irak die erste islamische Demokratie der Welt?

Der Irak könnte sich in diese Richtung entwickeln. Das ist aber nur eine von mehreren Möglichkeiten, wie es nach Annahme der Verfassung weitergehen könnte. Eine andere Variante, und das wäre wohl die schlimmste Option, ist die: Im Irak verbindet sich ein Bürgerkrieg mit einem „Krieg der Kulturen“.

Herr Fürtig, vielen Dank.

Dr. Henner Fürtig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut in Hamburg. Er erforscht unter anderem den demokratischen Wandel und soziale Transformationen im Irak.