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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Hans-Bernd Zirkel5. Juli 2003

Berlusconi gescholten / Steuersenkungen geplant / Metaller-Streiks gescheitert

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In der vergangenen Woche hatten die Kommentatoren der europäischen Tagespresse drei deutsche Themen im Blick: die Reaktion auf Silvio Berlusconis Nazi-Äußerung im Europaparlament, die von der Bundesregierung geplanten Steuersenkungen und der gescheiterte Arbeitskampf in Ostdeutschland.

Die italienische Tageszeitung LA REPUBBLICA ging auf das Telefongespräch zwischen Bundeskanzler Schröder und dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi ein, bei dem er sich nach Angaben des Kanzlers dafür entschuldigte, den Europa-Abgeordneten Martin Schulz als perfekt geeignet für eine Filmrolle als KZ-Aufseher bezeichnet zu haben. Dazu das römische Blatt:

"Für das 'höhere Wohl Europas' hat Kanzler Schröder so getan, als habe er die Entschuldigung angenommen und als sei damit der schwerwiegendste Zwischenfall in der Geschichte der deutsch- italienischen Beziehungen beendet. (...) Berlusconi hat so getan, als würde er sich entschuldigen, und hat das turbulenteste Semester in der Geschichte der Union eröffnet. (...) Ein Telefonat zwischen Rom und Berlin wird aber nicht ausreichen, um den enormen politisch- institutionellen Schaden der 'Ohrfeige von Straßburg' zu reparieren. Die Beleidigung von Schulz, Deutschland und Europa durch Berlusconi ist nur in der Form repariert, nicht in der Substanz. Italien beginnt die Präsidentschaft mit einem unauslöschlichen Handicap."

Mit Blick auf die europäische Einigung schrieb der Kommentator der niederländischen Zeitung DE VOLKSKRANT:

"Nicht nur im Hinblick auf Pläne der praktischen Politik hat Berlusconi Europa einen Schlag versetzt, sondern auch, soweit es um das Ideal der Einigung geht. Wenn nämlich ein Italiener, der mit einem unbequemen Deutschen konfrontiert wird, sofort den Vergleich mit einem Nazi zieht, dann haben wir bei der europäischen Einigung bisher nicht viel erreicht."

Die Nazi-Zeit verfolge die Deutschen noch immer, meinte die britische TIMES und fragte:

"Wird es Deutschland je gelingen, das negative Image abzuschütteln, das mit dem Holocaust und dem Dritten Reich verbunden ist? Das Problem beschränkt sich nicht auf die Generation von Silvio Berlusconi. Nach einer (am Donnerstag) veröffentlichten Umfrage empfindet eine große Zahl von jungen Briten gegenüber Deutschland eine Abneigung, die auf den Zweiten Weltkrieg und die Nazi-Vergangenheit zurückgeht. In den Niederlanden werden Autos mit deutschem Kennzeichen oft absichtlich zerkratzt - wahrscheinlich von Teenagern, die drei Generationen nach dem Krieg geboren wurden. Wie kann Deutschland diese negativen Haltungen ändern? Nationale Selbstzweifel und Unsicherheit behindern jeden Versuch, ein tapferes, stolzes neues Deutschland zu präsentieren. Aber Tatsache ist, dass Deutschland zumindest eines der wenigen europäischen Länder ist, das sich offen, ehrlich und unablässig mit seiner kriegerischen Vergangenheit auseinander setzt."

Die dänische Tageszeitung JYLLANDS-POSTEN aus Århus äußerte den Verdacht, der Eklat könne durch eine von Bundeskanzler Schröder veranlasste Provokation herbeigeführt worden sein:

"Lag es vielleicht in der Absicht des deutschen Abgeordneten Martin Schulz, den leicht erregbaren Berlusconi zu provozieren? Falls das der Fall war, muss man sagen, dass das Manöver gelungen ist. Die italienische EU-Ratspräsidentschaft ist von Beginn an aus dem Gleis. Sollte es soweit kommen? Vielleicht. Es könnte auch noch eine Zwischenrechnung geben, die Bundeskanzler Schröder ausgestellt hat, als Berlusconi zum Jahresbeginn den Amerikanern in den Irak folgte, während Schröder zu Hause blieb."

Auf die von der Bundesregierung angekündigten Steuersenkungen reagierte die spanische Tageszeitung EL PAÍS aus Madrid so:

"Bundeskanzler Gerhard Schröder hat wieder die Initiative ergriffen. Mit seinem Programm wirtschaftlicher Reformen zieht er nicht nur seine eigene Partei mit, sondern auch den grünen Koalitionspartner und sogar die im Bundesrat dominierende christdemokratische Opposition, deren Zusammenarbeit unerlässlich ist. Deutschland steuert auf eine de facto große Koalition zu. Denn das Land erlebt ohne Zweifel eine Situation nationalen Notstands. Die Entscheidung Schröders, die Steuerreform ein Jahr vorzuziehen, ist vernünftig. Damit kann der Konsum angekurbelt werden. Die Mindereinnahmen können mit Kürzungen der Staatsausgaben und einigen noch anstehenden Privatisierungen ausgeglichen werden. Die Opposition wurde von dieser Entscheidung, die sie selbst forderte, überrascht."

Die niederländische Zeitung DE TELEGRAAF kommentierte:

"Als größtes und wichtigstes Euroland muss Deutschland um jeden Preis wieder Wachstum produzieren. Daran besteht kein Zweifel. Aber es bleibt fraglich, ob die Deutschen ihre eingesparten Steuerpfennige tatsächlich in die Geschäfte tragen können oder ob die nicht für Besuche beim Arzt, Zahnarzt oder Apotheker draufgehen."

Auch die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG aus der Schweiz bezweifelte, dass mit der vorgezogenen Steuerreform der Konsum angekurbelt werden könne:

"Die von Schröder verwendete Formel, wonach 10% weniger Steuern 10% mehr Konsum entsprechen, gilt schon in guten Zeiten nicht, da ein Teil der Einkommen normalerweise gespart wird. Und dass die Konsumenten ausgerechnet in diesen von außergewöhnlicher Unsicherheit und Vertrauensverlusten gezeichneten Zeiten mit vollen Händen in ihre unverhofft etwas dickeren Portemonnaies greifen werden, gilt als besonders zweifelhaft."

Die in Wien erscheinende Zeitung DER STANDARD bemerkte:

"Ob es wirklich ein Befreiungsschlag wird, hängt entscheidend vom Verhalten der Opposition ab. Die rot-grüne Regierung hat einen ersten Schritt gemacht, aber die entscheidende Frage, wie das finanziert werden soll, nicht wirklich beantwortet."

Die schwedische Tageszeitung DAGENS NYHETER aus Stockholm lenkte den Blick auf die Auswirkungen, die die Steuerreform möglicherweise auf den EU-Stabilitätspakt haben könnte:

"Zum Wohl der EU wie Deutschlands sollte Schröder schnell Bescheid geben, wie er sich den Ausgleich von Soll und Haben vorstellt. Der EU-Stabilitätspakt kann schwer verkraften, dass das Land, das sein Hauptkonstrukteur gewesen ist, zum wiederholten Mal Buchstaben und Geist des Regelwerks verletzt."

Die britische Wirtschaftszeitung FINANCIAL TIMES kommentierte das Scheitern des Arbeitskampfs in der ostdeutschen Metallindustrie:

"Man kann sich keine schwerere Niederlage vorstellen. Der Rückschlag der Gewerkschaft wird die Reformierung des Konsens-orientierten deutschen Nachkriegsmodells des Kapitalismus beschleunigen. Es steht außer Frage, dass die deutschen Gewerkschaften nun vor der Wahl stehen, sich entweder anzupassen oder an Einfluss zu verlieren. Wie tief die Mächtigen doch gefallen sind. Nach dem Krieg stieg die IG Metall zur vielleicht mächtigsten Gewerkschaft der Welt auf. In den 80er Jahren führte sie im damaligen Westdeutschland eine erfolgreiche sechsjährige Kampagne für die Einführung der 35-Stunden- Woche. Ihre Niederlage im Osten bei einem ähnlichen Ziel zeigt deutlich, wie sehr sich die Welt verändert hat."

Die BASLER ZEITUNG aus der Schweiz stellte fest:

"Das hat es in der keineswegs streikreichen deutschen Nachkriegsgeschichte in dieser Form noch nicht gegeben. Der Verdacht wächst, dass der gescheiterte Streik zur Verkürzung der Wochenarbeitszeit in den ostdeutschen Metall- und Elektrobetrieben einen Wendepunkt markiert. (...) Die Arbeitgeber haben gelernt, dass Kompromisse nicht um jeden Preis vernünftig sind. Es sollte wundern, wenn dies Beispiel keine Schule macht."

Zum Schluss dazu die in der Schweizer Hauptstadt Bern erscheinende Zeitung DER BUND:

"Vielleicht wird der (vor)vergangene Samstag als historische Wendemarke in die Wirtschaftsgeschichte Deutschlands eingehen. Denn beim gescheiterten Arbeitskampf ging es nicht nur um drei Stunden Arbeit pro Woche. Es ging um die Flächentarifverträge für ganze Branchen, meist bundesweit. Für kleinere Unternehmen sind sie oft kaum zu bezahlen. Hinter den Flächentarifen steht das in Deutschland tief verwurzelte Prinzip, alles und alle gleich zu behandeln, auch wenn die Umstände gar nicht gleich sind. Regionale Unterschiede werden nicht als Chancen begriffen, sondern als zu nivellierende Nachteile wahrgenommen. Dieser Gleichheitswahn ist auch Ursache einer exorbitanten Bürokratie, die besonders den Mittelstand enorm schädigt."