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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Hans-Bernd Zirkel7. Dezember 2002

Generalaussprache im Bundestag / Deutsch-französische Gespräche in Storkow

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Die Kommentatoren der europäischen Auslandspresse richteten ihren Blick in der vergangenen Woche auf die Wiederbelebung des deutsch-französischen Verhältnisses und auf die Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag. Zum Auftritt des Kanzlers meinte die dänische Tageszeitung INFORMATION aus Kopenhagen:

"Leitartikelschreiber, Wirtschaftsleute und sogar einige sozialdemokratische Politiker wünschten sich von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Bundestag eine Rede mit churchillschen Qualitäten. Einen Ausweg aus dem Dunkel, eine Hoffnung. Sie wünschten vergebens. Der Kanzler erwies sich sowohl vital als auch angriffslustig und außerdem bereit, die ernste wirtschaftliche Lage einzuräumen. Die Ursache für die Misere aber fand er anderswo. In der allgemeinen Krise der Weltwirtschaft, der Furcht vor einem Krieg im Irak sowie «unseriösen Geschäftsmethoden» im US-Geschäftsleben wie bei Enron. Schröder unterließ es, einen Ausweg aufzuzeigen. Er kündigte strukturelle Reformen im Gesundheits- und Rentensystem an, ohne aber konkret zu werden. (...) Es gibt ja das Risiko, dass die Bürger bei den anstehenden Landtagswahlen Nein zu Reformen der Regierung sagen könnten. Das Risiko wagte Schröder denn noch nicht einzugehen. Deshalb lächelt er lieber weiter. Auch wenn es eigentlich wenig zum Lächeln gibt.

Die in Wien erscheinende Zeitung DER STANDARD fand, Regierung und Opposition hätten im Bundestag eine Chance vertan, nämlich:

"...ehrlich zu erklären, was auf die Menschen in den nächsten Jahren zukommt. Stattdessen haben sich die Parteien in gegenseitigen Diffamierungen überboten. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat die Möglichkeit nicht genutzt, seinen Landsleuten eine Perspektive zu geben und Klarheit zu verschaffen. (...) Dass nicht klar ausgesprochen wird, was im Bereich Steuern, Gesundheit und Pensionen getan werden muss und wie vorgegangen wird, erhöht die Unsicherheit und verstärkt die ohnehin schon schlechte Stimmung. Damit wird Deutschland krankgeredet. SPD und Grüne haben vor der Wahl nicht deutlich genug gesagt, wie dramatisch die Lage beim Haushalt und den sozialen Sicherungssystemen ist. Sie sagen jetzt auch nicht klar, was auf die Bürger zukommt."

Mit Blick auf die jüngsten Zahlen von Arbeitslosen und Firmenpleiten urteilte die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG aus der Schweiz:

"Der Bundeskanzler und seine Minister machen es sich gar einfach, wenn sie dieses Malaise nun den widrigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen anlasten, genauer gesagt, den Problemen des Neuen Marktes, «unseriösen Geschäftspraktiken» (in den USA) oder der Irak-Krise. Wie lässt sich dies mit der Tatsache in Einklang bringen, dass es der deutschen Exportindustrie noch immer verhältnismässig gut geht? Die Frage stellt sich also, wie die gegenwärtige Führung in Berlin aus dieser Abwärtsspirale wieder herauskommen will. Antworten sind nur schwer zu erhalten. Immerhin hat der Fraktionschef der SPD, Müntefering, eine bestechend simple Vulgär- Formel geliefert: 'Weniger für den privaten Konsum - und dem Staat Geld geben, damit Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben erfüllen können.' (...) Und immer wieder wird beschworen, dass der Schaffung neuer Arbeitsplätze absolute Priorität zukomme. Nur ist in den rot-grünen Rezepturen nicht sichtbar, wie dies geschehen sollte."

Auch der Kommentator der österreichischen Zeitung DIE PRESSE stellte der Bundesregierung ein schlechtes Zeugnis aus und schrieb:

"... (sie) ließ bisher jegliches Konzept vermissen, sie hat sich in einem Reform-Wirrwarr heillos verzettelt. In ihren Reihen herrscht Kakophonie. Wo Leitlinien, womöglich Visionäres gefragt wäre, regieren Kraft- und Mutlosigkeit. In einem Interview hatte der Kanzler Anleihe bei einem Stehsatz genommen, dem Lieblingszitat aller Reformpolitiker aus der Feder Tomasi di Lampedusas: Damit alles so bleibe, wie es ist, müsse sich alles ändern. Doch statt in einer Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede bei der Budgetdebatte die Deutschen auf die Härten einzustimmen, attackierte er larmoyant - ein Zeichen von Schwäche - die Opposition: "Tun Sie doch endlich ihre Pflicht!" Schon wahr: Die Opposition ergeht sich in Wahlkampfgetöse - doch das ist schließlich ihr gutes Recht. Aus der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses über den Wahlbetrug der Regierung - ein Novum in der parlamentarischen Demokratie - will sie politisches Kapital für die bevorstehenden Landtagswahlen schlagen: eine Abrechnung mit Rot-Grün. Das könnte dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, einem Strategen ohne Scheu vor populistischen Anwandlungen, einen fulminanten Wahlsieg einbringen."

Die niederländische Zeitung DE VOLKSKRANT zog folgendes Resumee:

"Deutschland muss dringend seinen unflexiblen Versorgungsstaat reformieren. Das fordern Ökonomen im In- und Ausland seit Jahren. Bürokratie behindert Unternehmerschaft und Erneuerung. Der Arbeitnehmer ist zu gut beschützt und kostet zu viel, als dass sich die Arbeitslosigkeit verringern würde. Gesundheitsvorsorge, Renten und Unterstützungen werden unbezahlbar, sicher im Hinblick auf die wachsende Vergreisung. Aber bei der Risiken meidenden Bevölkerung herrscht großer Widerstand gegen Reformen. Die Notwendigkeit zu Reformen wird zwar von vielen eingesehen, aber sobald es um konkrete Maßnahmen geht, ist die Entrüstung groß. Obwohl es Anzeichen dafür gibt, dass die Deutschen zu Opfern bereit sind, schrecken die Politiker vor allzu schmerzhaften Eingriffen zurück."

Die französische Wirtschaftszeitung LES ECHOS aus Paris beschäftigte sich mit dem deutsch-französischen Verhältnis:

"Man hat nicht mehr daran geglaubt. Und doch: In den Fragen der Landwirtschaft, des Stabilitätspaktes, der Verteidigung und bei den europäischen Institutionen feiert das deutsch-französische Paar eine Wiedergeburt, so wie der Phönix aus der Asche. Es ist nicht mehr ganz das alte Tandem, aber auch kein völlig neues. Das alte hatte an Glanz verloren, nachdem es jahrzehntelang den Aufbau Europas angetrieben hatte. Das wirtschaftliche Dilemma in Deutschland und die Absicht der Amerikaner, sich mit dem Irak zu schlagen, haben jetzt also wie ein Elektroschock die Furcht nur noch verstärkt, an den Rand gedrückt zu werden. Über diese Wiederbelebung als Folge davon kann man sich nur freuen, ohne dieses deutsch-französische Aufwachen überzubewerten."

Die dänische Tageszeitung BERLINGSKE TIDENDE meinte, die neue deutsch-französische Achse könne nur gut für Europa sein:

"Gleichzeitig mit dem Tauziehen um die bevorstehende Ausweitung der Europäischen Union ist etwas anderes geschehen, das sich als äußerst perspektivreich für Europas Zukunft erweisen könnte. Die alte Kernachse der Union, die visionäre Allianz zwischen den Großmächten Deutschland und Frankreich ist nach mehreren Jahren zunehmenden Siechtums plötzlich wieder funktionstüchtig. Auch wenn niemandem damit gedient sein kann, dass die EU eine Großmacht wird, ist diese Entwicklung gut für Europa. Sie bedeutet, dass man sich jetzt Gedanken über die Zukunft der Union macht, wenn sie in wenigen Jahren aus mindestens 25 Ländern besteht. (...) Es ist eine gigantische politische Aufgabe, diese Größenordnung in der Praxis zum Funktionieren zu bringen. Dass Frankreich und Deutschland sich ihr augenscheinlich wieder zu stellen wagen, stimmt optimistisch."

Die russische Zeitung KOMMERSANT kommentierte das Treffen von Bundeskanzler Schröder und Frankreichs Staatspräsident am Mittwoch bei Berlin so:

"Frankreich und Deutschland haben wieder zueinander gefunden und sind zugleich von London abgerückt. Ungeachtet der jüngsten Meinungsverschiedenheiten sind die Staatsführer Frankreichs und Deutschlands bereit, weiter am europäischen Haus zu bauen. Noch vor zwei Monaten schien es, dass die Beziehungen zwischen Berlin und Paris am Boden sind. Ein Indiz dafür war die Entscheidung Schröders, nach seiner Wiederwahl seine erste Auslandsreise nicht nach Frankreich, sondern nach Großbritannien anzutreten. Doch seit dem EU-Gipfel in Brüssel gewinnt der deutsch-französische Motor wieder an Fahrt."

Und das sei auch positiv für die Türkei, meinte das in Turin erscheinende italienische Blatt LA STAMPA:

"Der französisch-deutsche Motor, der mit der Einigung über die gemeinsame Agrarpolitik und mit dem Projekt einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit und der Justiz wieder angesprungen ist, scheint jetzt den Gang einlegen zu wollen, der die Türkei in die Europäische Union bringen wird. (...) Dies ist ein wichtiges Thema der deutschen Außenpolitik, die noch immer damit beschäftigt ist, die Beziehungen mit den Amerikanern wiederherzustellen: Eine europäische Türkei gefällt vor allem den USA."