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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Günther Birkenstock23. Juli 2005

Bundestagsauflösung-Köhler / Annullierung des EU-Haftbefehls / Reaktionen auf die erneuten Anschläge in London

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'Im Mittelpunkt der Kommentare ausländischer Zeitungen mit Blick auf Deutschland stand in dieser Woche die Entscheidung zur Auflösung des Bundestages durch Bundespräsident Horst Köhler und die Annullierung des EU-Haftbefehls durch das Bundesverfassungsgericht. Darüberhinaus beschäftigte viele Kommentatoren die Reaktion des Westens auf die zweite Anschlagsserie in Großbritannien.

Zur Entscheidung des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, schreibt die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG:

"Bundespräsident Köhler ist mit seinem Entscheid für vorzeitige Neuwahlen das Risiko eingegangen, dass das Bundesverfassungsgericht diese Lösung als nicht verfassungskonform beurteilt, weil das Misstrauensvotum im Parlament von Schröder künstlich inszeniert worden ist. Rein formaljuristisch ist dieses Argument nicht leicht von der Hand zu weisen. Aber es geht bei diesen staatspolitischen Fragen ebenso sehr um praktische Realitäten und gewachsene Erfahrungen. Und die zwei bisherigen Erfahrungen mit vorzeitig arrangierten Neuwahlen (1972 unter Willy Brandt und 1983 unter Helmut Kohl) zeigen, dass die politische Stabilität in der Bundesrepublik Deutschland - anders als in der Weimarer Republik, die auf wesentlich wackligeren Fundamenten gebaut war - dadurch nicht geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt wurde."

Die französische Tageszeitung LES DERNIERES NOUVELLES D'ALSACE aus Straßburg betont hingegen, dass Neuwahlen allein noch keinen politischen Wandel bedeuteten:

"Sollte es tatsächlich am 18. September Neuwahlen in Deutschland geben, dann ist aus Mangel an Alternativen kein wirklicher Wandel absehbar. Das gilt auch für die in den Genen von CDU und CSU verankerte Europa-Politik. Bayern, Baden-Württembergern, Pfälzern und Sachsen ist es bereits gelungen, die Versuchungen einer Politik à la Tony Blair bei Angela Merkel zu dämpfen, was eine Neuausrichtung der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik angeht."

Für die tschechische Zeitung MLADA FRONTA DNES aus Prag ist die Entscheidung von Bundespräsident Horst Köhler, den Bundestag aufzulösen, nur ein erster Schritt.

"An anderen Tagen warten viele Deutsche um 20 Uhr 15 vor dem Fernseher auf einen Krimi oder ihr Lieblingsquiz. Am Donnerstag war das anders - da brach ein nervöser Bundespräsident sein Schweigen und teilte dem Volk mit, dass es Neuwahlen gibt. Mit seiner Entscheidung, die bei den meisten Deutschen auf Zustimmung stößt, verhindert Köhler ein Chaos. Kaum auszudenken, wenn die Wahlen wie ursprünglich geplant erst im nächsten Jahr stattgefunden hätten. Allerdings hat Köhler mit seinem Ja nur eines der vielen Rätsel gelöst. Angesichts der angekündigten Verfassungsklagen ist das deutsche Drama nämlich nicht zu Ende."


Über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum EU-Haftbefehl schreibt die französische Tageszeitung LE MONDE:

"Auf den ersten Blick erscheint die Annullierung des EU- Haftbefehls durch das deutsche Verfassungsgericht als Rückschlag im Kampf gegen den Terrorismus, denn sie schwächt dieses wichtigste Werkzeug der europäischen Zusammenarbeit. Die Europäer werden dieses Urteil aus mehreren Gründen negativ aufnehmen. Erstens kommt es im falschen Augenblick, denn nach den Anschlägen von London wollen die 25 ihre gemeinsamen Kampf gegen den Terror verstärken. Zweitens gilt Deutschland nach dem 11. September 2001 als eines der zentralen Länder im Antiterror-Kampf. Allerdings muss man den deutschen Richtern auch dankbar sein. Sie erinnern daran, dass dieser Kampf Grundfreiheiten und Grundrechte nicht einschränken darf."

Als einen Schlag gegen die gemeinsame Antiterrorisumus-Strategie wertet die römische Zeitung LA REPUBLICA die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes:

"Der Terrorismus-Alarm reicht nicht aus, um nationale Gesetze zu den Akten zu legen, speziell solche, die die Grundrechte schützen. Dies ist die unterschwellige Botschaft der Aufsehen erregenden Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das das Gesetz zum europäischen Haftbefehl annulliert und der Freilassung von Mamoun Darkazanli den Weg geebnet hat, der vom spanischen Richter Baltasar Garzón als Statthalter von Osama bin Laden in Europa angesehen wird. Darkazanli ist ein freier Mann. Für das Bundesverfassungsgericht ist er vor allem ein deutscher Bürger: syrischen Ursprungs, aber ein Deutscher. (...) Indem die Richter das Gesetz zum europäischen Haftbefehl außer Kraft gesetzt haben, haben sie zwar einerseits Garantien wiederhergestellt, die immer mehr geschwächt worden waren; aber gleichzeitig haben sie der Antiterrorismus-Strategie der Europäischen Union einen Schlag versetzt."

Die Zeitung LUXEMBURGER WORT betont, Deutschland habe es versäumt, das deutsche Recht dem EU-Gesetz rechtzeitig anzupassen.

"Deutschland hat bei der Umsetzung des EU-Haftbefehls seine Hausaufgaben nicht gemacht. Den nationalen Gesetzgebern obliegt es, die auf EU-Ebene beschlossenen Beschlüsse so in nationales Recht umzusetzen, dass sowohl die gemeinsamen EU-Ziele gewahrt bleiben und gleichzeitig die nationale Verfassung nicht ausgehebelt wird. Das hat in der Bundesrepublik beim EU-Haftbefehl nicht funktioniert. Nicht einmal zwei Wochen nach den Terroranschlägen von London stellten die Karlsruher Richter gestern der deutschen Gesetzgebung kein gutes Zeugnis aus. Wie alle 25 EU-Länder hat sich auch Deutschland verpflichtet, den Brüsseler Rahmenbeschluss zum EU-Haftbefehl umzusetzen. Dieser wird gebraucht, weil das Verbrechen sich längst die offenen Grenzen innerhalb der EU zu Nutze macht. Deshalb muss auch die Verbrechensbekämpfung auf europäischer Ebene angegangen werden. Die deutsche Regierung und der Bundestag haben bei der Ausarbeitung des nationalen Gesetzes, mit dem die Vorgabe aus Brüssel in die deutsche Rechtordnung eingebettet werden sollte, den im deutschen Grundgesetz garantierten Auslieferungsschutz verletzt. Karlsruhe hat als oberste Kontrollinstanz den Gesetzesgebern Nachbesserung verordnet. Diese haben im Endeffekt zu verantworten, dass der mutmaßliche Terrorist Mamoun Darkazanli auf freiem Fuß ist."


Die zweite Serie von Anschlägen auf die britische Hauptstadt hat in den europäischen Tageszeitungen für vielfältige Reaktionen gesorgt. Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG warnt davor, durch zuviel Verständnis gegenüber den Motiven der Attentäter deren Taten zu verharmlosen:

"Ob nun westliche Großstädte jahrelang in konkreter Angst vor serienmäßigen Terroranschlägen leben müssen, so wie es die Israelis gezwungen waren, und was die Folgen wären, läßt sich kaum abschätzen. In London, Paris, Berlin oder Zürich lassen sich keine Sperranlagen errichten. Für präventive Festnahmen großer Scharen von Terrorverdächtigen fehlt (noch) die öffentliche Unterstützung. (...) Nicht zum Ziel führend sind (...) Relativierungen und eine Verharmlosung der Täter: Sie reagierten auf Ungerechtigkeiten, seien Opfer der Umstände, und Schuld laste auch auf vielen andern. Blair drückte sich unmissverständlich aus: 'Schuldig sind nur die Urheber der Tat.'"

Die römische Zeitung CORRIERE DELLA SERA ruft zu einer nüchternen Diskussion darüber auf, wieviel Kontrolle wir zugunsten der Sicherheit langfristig wollen:

"Alle fänden schön, wenn wir gleichzeitig die Freiheit und die Sicherheit erhöhen könnten, aber wenn jemand sagt, dass das möglich ist, dann soll er bitte erklären, wie. Wenn eine bestimmte Schwelle an Unsicherheit, Attentaten und Toten überschritten ist, wird die Freiheit der Sicherheit untergeordnet. (...) Seit dem 11. September wissen wir, dass ein Teil unserer Freiheiten für lange Zeit eingeschränkt sein wird. Statt ideologische Behauptungen aufzustellen, wäre es doch besser, pragmatisch zu diskutieren, Punkt für Punkt, Maßnahme für Maßnahme, über das Was, das Wie und das Wie viel: Welche Teile unserer Freiheit sind wir - hoffentlich vorübergehend - bereit, der Sicherheit zu opfern und welche wollen wir um jeden Preis verteidigen?"

Für die spanische Tageszeitung EL MUNDO zeigt sich in den erneuten Anschlägen in London die kaum vermeidbare Verwundbarkeit der westlichen Gesellschaft:

"Die westlichen Gesellschaften haben erneut festgestellt, wie verwundbar sie angesichts der Bedrohung des Terrorismus sind. Genau zwei Wochen nach dem Massaker von London hat eine Serie von Anschlägen wie die vom 7. Juli die Briten erschüttert. Und dies obwohl die Polizei in höchster Alarmbereitschaft war. Dass die Urheber möglicherweise Anfänger, Terroristen-Lehrlinge oder Nachahmer waren, macht das Ganze nicht weniger schlimm und lässt nicht weniger besorgt in die Zukunft schauen. Der Terrorismus ist der Hauptfeind der westlichen Gesellschaften. Und die große Herausforderung, der wir uns stellen müssen."