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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

zusammengestellt von Gerhard M. Friese7. Mai 2005

Wahlen in Großbritannien/ 60. Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkrieges/ Kapitalismuskritik

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Das Thema der Woche in den Kommentaren der Auslandspresse war die Parlamentswahl in Großbritannien. Aber auch der 60. Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkrieges und die Kapitalismuskritik von SPD-Chef Franz Müntefering stießen auf Interesse.

Kaum hat der britische Premierminister Tony Blair - wenn auch mit erheblichen Stimmverlusten den dritten Wahlsieg in Folge für die Labour Partei eingefahren, da wird schon über seine Nachfolge oder Ablösung nachgedacht. So schreibt die Londoner Zeitung THE DAILY TELEGRAPH:

"Es scheint sicher, dass sich Tony Blair früher in den Ruhestand verabschieden wird, als man gestern noch für möglich gehalten haben mag - und wesentlich früher, als er selbst geglaubt hat... Blair mag zum dritten Mal triumphieren, aber er hat die Zeitbombe, die neben ihm in Downing Street Nummer 11 tickt, nicht entschärfen können. Im Wahlkampf ist Finanzminister Gordon Brown mustergültig loyal gewesen, aber er hat in der Vergangenheit schon öfters durchblicken lassen, wie ungeduldig er ist. Man wird sich schwerlich darauf verlassen können, dass er noch viel länger auf das Erbe wartet, das er beansprucht."

Auch das ebenfalls in London erscheinende Blatt THE GUARDIAN glaubt an ein vorzeitiges Ende von Blairs dritter Amtszeit:

"Irak war nicht der einzige Grund dafür, warum die Wähler Labour davongelaufen sind, aber es besteht kaum Zweifel daran, dass Historiker die Wahl des Jahres 2005 einmal als die Irakwahl betrachten werden. Es war die Wahl, bei der ein erheblicher Teil der Pro-Blair-Koalition von 1997 und 2001 weggebrochen ist. Viele haben mit ihrem Stimmzettel klargemacht, dass sie Blairs Weigerung, in der Irakfrage auf die Nation zu hören, als Scheidungsgrund betrachten. Damit haben sie ihre Hauptziele wohl erreicht: Sie haben eine Gewissensentscheidung getroffen, sie haben die Labour-Mehrheit auf Normalmaß zurechtgestutzt, und sie haben - aller Wahrscheinlichkeit nach - Blairs Abschied aus der Downing Street beschleunigt."

Für die französischer Zeitung LIBERATION war die Wirtschaftspolitik ausschlaggebend für den Erfolg Blairs:

"Blair wurde ohne Enthusiasmus wiedergewählt - er wird nun ein Premierminister auf Abruf bleiben und dabei vor allem, wie ein amerikanisches Show-Sternchen, dem neuen Labour-Star Gordon Brown den Saal anheizen. Mit dem Krieg im Irak hat er auf tragische Weise sein Paradies der Popularität verloren. Dabei waren die Jahre Blair die liberalsten in der Geschichte der britischen Gesellschaft. Und das Königreich ist heute reicher und dynamischer als es im Jahre 1997 war - und dies dank einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die weit weniger ultral-liberal war, als sie in Karikaturen dargestellt wird."

Etwas anders sieht das der Schweizer TAGES-ANZEIGER aus Zürich:

"Fürs Erste aber hat Tony Blair, zusammen mit Schatzkanzler Gordon Brown, der Labour Party eine neue Amtszeit in Downing Street besorgt. Anderswo in Europa muss ein solcher Erfolg ja puren Neid erwecken. Was hat Labour zu diesem Erfolg verholfen? Die Tories boten, auch nach acht langen Jahren, keine echte Alternative. Die Liberaldemokraten schlugen sich wacker, bleiben im Ergebnis aber hinter den Erwartungen zurück. Statt für die Wende haben die Briten für weiteren Wandel gestimmt."

Und das französische Wirtschaftsblatt LA TRIBUNE wagt einen Vergleich mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac, der wie Blair zehn Jahre im Amt ist:

"Die Parallele tut weh. Blair hat Großbritannien wesentlich auf den Weg des Wachstums sowie der Beseitigung der Arbeitslosigkeit und sogar der Armut gebracht. Die Briten machen sich eher wenig Sorgen um ihre Arbeitsplätze, mehr um die Gesundheitspolitik und die Bildung. Chirac seinerseits ist weit von einer so brillanten Bilanz entfernt. Wenn man eine Momentaufnahme von Frankreich von vor zehn Jahren mit einem Foto von heute vergleicht, dann fällt das wenig schmeichelhaft aus."

Themenwechsel. Zum 60. Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkrieges bemerkt die tschechische Zeitung HOSPODARSKE NOVINY:

"Die im Mai 1945 geborene Hoffnung auf 'nie wieder Krieg' war möglicherweise von Anfang an verfehlt. Zwar hielt das jeweilige Atombombenarsenal in der Folge die beiden Großmächte von einer direkten Konfrontation ab. Doch andere Waffengänge gab es genug. Und auch die Hoffnung auf 'nie wieder Vernichtungslager' war vergeblich - es gab Gulags in der Sowjetunion, einen Genozid in Kambodscha und einen organisierten Massenmord in Ruanda. Trotzdem muss der Ruf des 'Nie wieder' immer und immer wieder erklingen. Denn er birgt Hoffnung, aller Enttäuschungen zum Trotz. In Europa, wo der Zweite Weltkrieg begann, hat man verstanden: Dauerhaft kann nur jener Sieg sein, der auch dem Verlierer eine Zukunft ermöglicht."

Die Londoner Wirtschaftszeitung FINANCIAL TIMES schreibt:

"Geschichte darf die heutigen Beziehungen nicht dominieren. Politiker müssen wissen, wann nach vorne geschaut werden muss, wie die Männer, die in der Nachkriegszeit die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland betrieben haben. Die Nationen brauchen aber auch Zeit, um ihre Vergangenheit zu bewältigen. Die Westeuropäer hatten 60 Jahre Zeit, um sich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Die Osteuropäer durften dies frei erst nach 1989 tun. Die Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit wird ein bisschen mehr Zeit brauchen. Aber um der gemeinsamen europäischen Zukunft willen wird es die Anstrengung wert sein."

Und die NEUE ZÜRCHE ZEITUNG aus der Schweiz merkt an: "Der Zweite Weltkrieg zog tiefe Furchen. Sie sind noch sichtbar, auch wenn der Blick auf sie langsam weniger scharf wird und neue Generationen, die im Frieden leben, anderes sehen und anders gewichten. Die Alte Welt und ihre Dominanz im globalen Geschehen, die mit den großen Entdeckungsreisen begonnen hatte, waren bei Kriegsende endgültig vorbei, etwas Neues begann. Die ersten - und bis jetzt einzigen - Atombomben wurden über Japan gezündet, nicht über Europa, ein erstes Indiz künftiger Kräfteverhältnisse. Jenseits der in Europa immer wieder aufflammenden Diskussionen über Schuld und Sühne, Anpassung oder Widerstand, Wiedergutmachung und Neuanfang sind doch unverrückbare Lehren aus der Geschichte geblieben. So unklar sind sie eigentlich nicht."

Mit der Kapitalismus-Kritik von SPD-Chef Franz Müntefering befasst sich die Schweizer BASELER ZEITUNG:

"Die unverhofft breite positive Resonanz der Kapitalismuskritik wird bei Bundeskanzler Schröder alle Alarmglocken schrillen lassen. Denn sie verheißt nichts Gutes für seine eigene Karriere. Der Geist ist aus der Flasche. Für die Bundestagswahl im Herbst 2006 wird die SPD kaum umhinkommen, die Kapitalismuskritik ins Programm zu nehmen - und überzeugend zu vertreten. Dafür wird Unternehmerfreund Schröder selber kaum in Frage kommen, obwohl ihm schon so manche politische Wende gelungen ist."

Die österreichische Zeitung DER STANDARD zieht eine Parallele zur Diskussion über die Europäische Verfassung in Frankreich:

"Ein Jahr nach der EU-Osterweiterung entlädt sich der bisher verdrängte Zorn über die Erweiterung in unerwarteten Kanälen. Gegen EU-Partner zu wettern gehört nicht zum guten Ton im politischen Establishment, deshalb werden Ersatzziele benötigt. In Deutschland schimpft SPD-Chef Franz Müntefering seit Tagen auf böse ausländische Finanzinvestoren, die wie 'Heuschrecken' über gesunde deutsche Firmen herfallen... In Frankreich wiederum droht das Referendum über die EU-Verfassung vor allem an der brodelnden Globalisierungskritik zu scheitern - und hier vor allem am Ärger über die von den Franzosen nie gewünschte Erweiterung. Weder Müntefering noch die französischen Wähler können Europa vor der Globalisierung schützen. Aber das Unbehagen über Kapitalismus und Wettbewerb bleibt ein politischer Faktor, den keine noch so klare ökonomische Analyse wegzaubern kann."