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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Red.: Barbara Zwirner26. Juni 2004

Reformen in Deutschland / Kontroverse um Prodi-Nachfolge

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Die Reformpolitik in Deutschland unter der rot-grünen Koalition beschäftigt in dieser Woche einmal mehr die Kommentatoren der ausländischen Tagespresse. Aufmerksamkeit findet auch die Diskussion um die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Romano Prodi.

Zur Situation von Bundeskanzler Gerhard Schröder und der SPD schreibt die niederländische Zeitung VOLKSKRANT:

"Nach fünf Jahren trägem Nichtstun und falschen Versprechungen hat Schröder doch noch eingesehen, dass der deutsche Sozialstaat reformiert werden muss. Aber die schmerzlichen Eingriffe haben kein Konzept, werden äußerst mies ausgeführt und reichen doch nicht weit genug, um etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit ausrichten zu können. Einige Schmerzen, aber keine Aussicht auf Heilung - so bereitet man ein verwöhntes Volk nicht auf Entbehrungen vor. Deutschland ist in einen schweren Sturm geraten und hat einen Schönwetterkanzler am Ruder. Ein echter Nachfolger, wie es Helmut Schmidt in den 70er-Jahren für Willy Brandt war, steht nicht bereit. Und das Wichtigste: Die SPD hat keine bessere Antwort auf die politische und ökonomische Krise, in der sich Deutschland befindet."

Die linksliberale dänische Tageszeitung INFORMATION charakterisiert den Zustand der Republik wie folgt:

"Egal ob Reformen von der SPD oder der CDU ausgedacht werden, die deutschen Wähler wollen nicht mitmachen. Sie sehnen sich nach den sorglosen vergangenen Tagen, als Kanzler Schröder noch seine teuren Zigarren zu rauchen wagte und gerne in TV-Shows mit leichten Themen auftrat. Es macht inzwischen keinen Sinn mehr, die SPD für fehlenden Reformmut oder Schröder für verschenkte Möglichkeiten zur besseren Reformvermittlung an die Wähler oder die CDU für ihre sorglosen Behauptungen zu kritisieren, dass irgendwo Geld begraben ist und nur ein konservativer Kanzler den Platz kennt. Es gibt kein Geld. Aber es gibt einen Ausweg aus dem Stillstand: Einen Putsch in Berlin. Wenn die beiden großen Volksparteien ihr narzisstisches Blicken in den Spiegel der Meinungsumfragen für eine begrenzte Zeit aussetzen und im Windschatten der Sommerferien eine Große Koalition eingehen würden, könnte das Arbeitsruhe schaffen, um Deutschland zu reparieren. Man lehnt hier Volksabstimmungen zu großen Fragen mit der Begründung ab, sie seien überflüssig, weil die Bürger ja Politiker für die notwendigen Entscheidungen gewählt haben. Jetzt fehlt nur noch, dass die Poltiker dafür auch ihre Macht nutzen."

Zur deutschen Finanzpolitik schreibt die liberale britische Tageszeitung THE GUARDIAN:

"Das Herumschieben von Zahlen, zusammen mit Einsparungen bei Infrastruktur-Ausgaben, schmeicheln dem deutschen Staatshaushalt und erlauben es Eichel, eine Staatsverschuldung vorauszusagen, die im Rahmen der vom EU-Stabilitätspakt gesetzten Grenzen bleibt. Europa braucht in der Tat ein starkes Deutschland, falls das große Experiment eines gemeinsamen Marktes und einer gemeinsamen Währung funktionieren soll. Ein Lichtblick dabei bleibt die deutsche Exportstärke, die durch eine Erholung im Ausland gestützt wird. Aber bis auch der Rest der deutschen Wirtschaft sich erholt, wird der deutsche Schuldenberg nicht verschwinden."

Das Pariser Wirtschaftsblatt LA TRIBUNE kommentiert die vereinbarte Verlängerung der Arbeitszeit bei Siemens:

"Die Feststellung, die einige einfach nicht sehen wollen, hat sich schließlich durchgesetzt: Da sich die Länder mit geringeren Lohnkosten die Technologien vereinnahmen, die ihnen übertragen werden, können Länder wie Deutschland nicht mehr auf ihren technologischen Vorsprung setzen. Sie sind somit gezwungen, billiger zu produzieren, indem sie die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich verlängern. Was auf dem Spiel steht, ist klar: Die Verlagerung von Arbeitsplätzen. Die Gewerkschafter der IG-Metall haben es als erste verstanden, die Arbeitnehmervertreter von Siemens dann auch."

Schließlich ein Blick in die Londoner THE TIMES, die einen ganz anderen Akzent setzt. Für sie ist das frühe Ausscheiden der deutschen Elf bei der Fußball-EM Ausdruck einer nationalen Misere:

"Die Niederlage gegen das tschechische B-Team hat Bundeskanzler Gerhard Schröder jeglicher Hoffnung beraubt, dass sich die nationale Gefühlslage zu seinen Gunsten verbessern könnte. Deutschland ist zu einer Nation geworden, der der Wille zum Sieg fehlt. Auf das tiefe Schweigen am Mittwochabend direkt nach der Niederlage folgte ein Tag, an dem sich die ganze Nation schlechter Laune hingab. Eine Titelgeschichte der Bild-Zeitung während des Turniers bildete die deutsche Mannschaft als elf Frankfurter Würstchen ab. Der Unterton war klar: Die Niederlage ist Teil einer umfassenden nationalen Malaise. Seit dem WM-Sieg von 1954 ist aus dem Land eine Nation von Selbstzweiflern geworden, und es hat den Anschein, dass das Übel auf dem Spielfeld beginnt."

Themenwechsel: Nach der Einigung auf eine erste gemeinsame europäische Verfassung hat die Diskussion um die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Romano Prodi die Gemüter erhitzt.

Damit beschäftigt sich die Straßburger Zeitung DERNIERES NOUVELLE D'ALSACE:

"In einem Monat soll das Europaparlament dem neuen Präsidenten der Brüsseler Kommission sein Vertrauen ausdrücken. Aber wem? Die wenigen widerwillig genannten Kandidaten wurden beinahe offiziell von Paris, Berlin und London abgelehnt. Oder sie werden von den anderen abgelehnt, sobald eine dieser drei Hauptstädte einen Namen nennt - hinter den Kulissen. Man kann gut verstehen, dass sich unter diesen Bedingungen die Kandidaten nicht gerade drängen. Und das ist noch nicht alles: Das Straßburger Parlament hat ein Wörtchen mitzureden. Die konservative Fraktion pocht auf ihre relative Mehrheit und verlangt eine Persönlichkeit aus ihrer großen politischen Familie, die wiederum in Eurobefürwörter und Euroskeptiker gespalten ist. Ein wahres Kopfzerbrechen, wie überhaupt das ganze Europa zu 25."

Die rechtsliberale dänische Tageszeitung JYLLANDS POSTEN schreibt:

"Die Suche nach einem Nachfolger für EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hat sich als gewaltige Herausforderung erwiesen. Die tiefe Kluft aus der Uneinigkeit über die Entwaffnung des Iraks mit Frankreich und Deutschland auf der einen sowie Großbritannien auf der anderen Seite besteht nach wie vor. Den Ernst der Lage und die Tiefe der Uneinigkeit zeigt auch, dass möglicherweise mit wenigen Tagen Vorlauf ein Sondergipfel einberufen werden soll, um Versäumtes nachzuholen. Vom Brüsseler Gipfel wurde Frankreichs Präsident Jacques Chirac mit der Äußerung zitiert, dass man keinen EU-Kommissionschef aus einem Land ernennen könne, das außerhalb der Euro-Zone liege. Das klingt hohl angesichts der Tatsache, dass Frankreich und Deutschland über längere Zeit grundlegende Bedingungen über die Teilnahme an der Währungsunion links liegengelassen haben."

Zum Beginn der niederländischen EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli merkt die belgische Tageszeitung DE STANDAARD an:

"Die Niederlande übernehmen nächste Woche die EU-Ratspräsidentschaft von Irland, mitten im europäischen Sturm über die Ernennung eines neuen Kommissionspräsidenten, die Kritik an dem Abkommen über die Europäische Verfassung, die Vorbereitung der Finanzierungsdebatte und die Diskussion über die Türkei. Im Herbst steht eine der politisch schwierigsten Fragen der vergangenen Jahre zur Entscheidung an: Müssen Verhandlungen über den möglichen EU-Beitritt der Türkei aufgenommen werden? Inzwischen müssen die Niederlande auch noch zusehen, dass anständige Vertragstexte der Europäischen Verfassung abgeliefert werden."

Die Londoner FINANCIAL TIMES fasst die Lage der Europäischen Union aus ihrer Sicht wie folgt zusammen:

"Die Verhandlungen über eine EU-Verfassung haben in Wahrheit das Tor für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten geöffnet. Es wird eine erste Klasse für all diejenigen geben, die den europäischen Clubs - wie zum Beispiel dem Schengen-Abkommen - bereits angehören. Frankreich wird auf jeden Fall dazugehören - wie auch die meisten anderen Gründerstaaten der EU. Die zweite Klasse wird denen vorbehalten sein, die sich aussuchen wollen, welchen Clubs sie beitreten. Großbritannien ist durch seine eigene Entscheidung in dieser äußeren Gruppe. Dasselbe gilt auch für Dänemark und Schweden, die dem Euro schon mal gar nicht beitreten wollen. Die neuen EU-Mitglieder laufen Gefahr, in der zweiten Klasse stecken zu bleiben - ob sie es wollen oder nicht. Denn die Eintrittsmarke für die Kerngruppe wird immer höher gehängt."