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Internationale Pressestimmen der vergangenen Woche

Barbara Zwirner18. Oktober 2003

Reformpaket im Bundestag / EU-Gipfel / Neue Irak-Resolution

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Die Abstimmung über das Reformpaket der Regierung im deutschen Bundestag war in dieser Woche ein zentrales Kommentarthema in der europäischen Tagespresse. Nicht weniger Aufmerksamkeit erhielten der EU-Gipfel in Brüssel, auf dem Bundeskanzler Gerhard Schröder sich von Frankreichs Präsident Jacques Chirac vertreten ließ, und die Einigung auf eine neue Irak-Resolution im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

Die Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder habe mit den Reformgesetzen einen Systemwechsel begonnen, meinte die österreichische Zeitung KURIER:

"Geschafft! Zumindest in der ersten Runde hat Bundeskanzler Schröder seine Leute auf die Einleitung der Sozialreformen eingeschworen. Auch wenn er selbst als einstiger Blockierer von Kohls letzten Reformen mitverantwortlich ist für das heutige Schlamassel, hat er damit Neues vollbracht. Viel zu spät, das gibt er zu, und viel zu halbherzig, sagen Opposition und Wirtschaft. Was er nun anfasst, ist aber etwas mehr als nur die bisherige Kosmetik am Sozialsystem. Endlich wird auch der Systemwechsel begonnen."

Speptisch beurteilte die Zeitung THE GUARDIAN aus London weiterhin den Zustand der deutschen Wirtschaft:

"Obwohl Deutschland kürzlich größter Exporteur der Welt geworden ist und dabei sogar die Vereinigten Staaten geschlagen hat, leidet das Land unter drei Jahren schwachen Wirtschaftswachstums. Deutschland bleibt zwar Europas größte Wirtschaftsmacht, aber viele glauben, dass es an einem zu stark regulierten Arbeitsmarkt krankt, an zu mächtigen Gewerkschaften und einem übertriebenen Urlaubsanspruch. Viele Beobachter haben Deutschlands Probleme mit denen Groß-Britanniens in den späten 70er Jahren verglichen - kurz vor der Wahl von Margaret Thatcher. Obwohl die meisten Deutschen die Notwendigkeit von Reformen einsehen, sind sie keineswegs begeistert von der Aussicht auf eingefrorene Renten und Einschnitte in die Arbeitslosenhilfe. Schröder ist es bisher nicht gelungen, die Unterstützung der Öffentlichkeit für seine Agenda 2010 zu gewinnen."

Der auch in London erscheinende THE INDEPENDENT griff die schon häufig gestellte Frage nach einer deutschen Maggie Thatcher auf:

"Die deutsche Wirtschaft ist in einer so angeschlagenen Verfassung, dass ein noch grundlegenderer Wandel erforderlich ist, wenn die Bundesrepublik ihre frühere Rolle als Wirtschaftslokomotive wiedererlangen soll. Der Euro-Beitritt zum falschen Kurs und die Kosten der Wiedervereinigung waren nicht gerade hilfreich, aber die Deutschen sind langsam zu der Erkenntnis gelangt, dass ihre Probleme tief gehenderer Natur sind. Einige rufen zu ihrer Errettung schon nach einer 'deutschen Maggie Thatcher'. So weit kann es mit dem Selbstbewusstsein einer Nation kommen, wenn fast fünf Millionen Bürger keine Arbeit haben. Deutschland weiß, was es zu tun hat, aber diese Einsicht wird den Schmerz nicht lindern."

Themenwechsel: Sehr unterschiedlich bewerteten die ausländischen Kommentatoren die Vertretung von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf
dem EU-Gipfel in Brüssel durch Frankreichs Präsident Jacques Chirac.

DIE PRESSE aus Wien interpretierte den Stellvertreterauftritt als Brüskierung der anderen EU-Partner:

"Damit brüskieren die beiden Staatsmänner nicht nur alle jene EU-Partner, die stets vor einer Blockbildung der großen Mitglied-Staaten gewarnt haben, sondern sie desavouieren damit auch die Bedeutung des Gipfeltreffens. Zwei Schlüsse lassen sich daraus ziehen: Entweder geht es um so Geringes, dass das nationale Stimmrecht bedenkenlos übergeben werden kann, noch dazu von einem Sozialdemokraten an einen Konservativen. Oder aber die Vertretung Schröders durch Chirac soll das große Vertrauen, das die beiden Länder verbindet, machtvoll demonstrieren. An Paris und Berlin gibt es kein Vorbeikommen mehr, nichts anderes soll die Geste sagen."

Zum Auftritt Chiracs in Brüssel meinte die Londoner THE TIMES:

"An der eindrucksvollen Symbolik dieser Geste kommt niemand vorbei. Sie zeigt, wie sehr das Liebesverhältnis zwischen Paris und Berlin aufgeblüht ist. Der Mitte-Links-Kanzler und der nationalistisch gesonnene Präsident haben ihr Bestes getan, um Europas früheres Zugpferd, die Achse über den Rhein hinweg, wieder auf Trab zu bringen. Nach ihrer vorübergehenden Entzweiung beim katastrophalen EU-Gipfel von Nizza im Dezember 2000 haben sie eine Partnerschaft aufgebaut, die mit französisch-deutschen Gespannen von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer in den 60ern und Francois Mitterrand und Helmut Kohl in den 90ern verglichen werden kann."

Die Pariser Tageszeitung LE MONDE sprach von einer Botschaft für das künftige Europa:

"Seit 2002 sind Jacques Chirac und Gerhard Schröder zur Überzeugung gelangt, dass nichts in Europa vorangeht, wenn die Missverständnisse der Vorjahre anhalten. Der Agrarkompromiss vom vergangenen Herbst hat den Weg für Übereinstimmungen auf den unterschiedlichsten Gebieten freigemacht wie der Irak-Krise, der EU-Erweiterung, der Interpretation des Stabilitätspaktes. Indem sie demonstrieren, dass ihre Rollen auf europäischer Ebene austauschbar sind, haben Präsident und Kanzler auch eine versteckte Warnung an die alten und neuen EU-Mitglieder gerichtet, die das Projekt einer europäischen Verfassung noch einmal aufrollen wollen. Wenn die Integration bei künftig 25 Mitgliedern blockiert ist, dann hindert uns nichts daran, zu zweit voranzugehen. Das ist die Botschaft."

Und der Pariser LE FIGARO bemerkte zum Auftritt des französischen Präsidenten Jacques Chirac als Kanzler-Stellvertreter:

"Wird es eines Tages einen französisch-deutschen Staat geben wie einst Österreich-Ungarn? Nachdem Jacques Chirac die Vertretung von Gerhard Schröder beim Gipfel in Brüssel übernommen hat, ist diese Frage keine reine politische Fiktion mehr. Doch im Moment gibt es Wichtigeres. Das Symbol einer wiedererstarkten engen Verbindung zwischen Paris und Berlin zeigt die Wirklichkeit auf, dass beide die weltweite Entwicklung mit derselben Anschauung betrachten. Chirac hat Schröder nicht nur einen Dienst erwiesen. Beide wollten daran erinnern, dass Frankreich und Deutschland, die in Europa die Hälfte des Bruttosozialprodukts auf sich vereinen, auch einen angemessenen Platz verdienen."

Soweit zu diesem Thema. Die dänische Tageszeitung JYLLANDS-POSTEN aus Arhus schrieb zur Einigung auf eine neue Irak-Resolution im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen:

"Vor der Einstimmigkeit bei den Vereinten Nationen haben die USA hart für einen Kompromiss gearbeitet. Aber dass dies mit einer so klaren und positiven Entscheidung enden würde, hat sich niemand auch in den wildesten Fantasien vorstellen können. Es ist nicht nur ein Sieg für die guten Kräfte in der irakischen Bevölkerung und für die USA, Großbritannien sowie deren Koalitionspartner, sondern auch für die UN und den Sicherheitsrat, der mit Machtkämpfen die eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzte und langsam seine Bedeutung zu verlieren schien. Bemerkenswert ist, dass die neu gestiftete Achse Paris-Berlin-Moskau die scharfe Kritik am Krieg aufgegeben und eingesehen hat, dass man dem irakischen Volk seine Souveränität überlassen kann, sobald die Verfassung fertig ist und freie Wahlen durchgeführt sind. Das Resultat stellt einen Triumph für US-Präsident George W. Bush und den britischen Premierminister Tony Blair dar, die trotz schwerer Opfer fest darauf beharrt haben, die Aufgabe im Irak zu vollenden."

Die römische Tageszeitung LA REPUBBLICA meinte:

"Die einmütige Annahme der Irak-Resolution im UN-Sicherheitsrat ist wie reiner Honig für das Amerika George Bushs. Die 15 Stimmen, darunter sogar die Stimme Syriens, haben den mildernden Effekt eines Balsams in den Wunden, die die USA seit Monaten an den Ufern von Tigris und Euphrat erleiden; und nunmehr sogar in Palästina, wo sie mit dem Attentat auf ihren Diplomatenkonvoi nach Gaza ihre bisher gewährte Immunität als Schiedsrichter verloren haben. Nach den enttäuschenden Nachrichten, die täglich aus dem Nahen Osten kommen, ist diese Abstimmung in New York mit Freudenschreien der amerikanischen Regierung begrüßt worden."

Die BASLER ZEITUNG sprach von einem 'Jein' für die US-Innenpolitik:

"Am Ende haben alle 15 UNO-Botschafter die Hand gehoben: Nicht nur Paris und Berlin haben nach dem Ausscheren Moskaus aus der Achse der Kritiker beim Poker um die neue Irak-Resolution in letzter Minute einen Schwenk vollzogen. Selbst Syrien kam an Bord. Haben die USA also bekommen, was sie wollten? Die Antwort lautet Jein. Alle Länder sind nun von der UNO offiziell aufgefordert, den USA aus der Patsche zu helfen. Nur: Ob das einstimmige Votum auch zu mehr internationalem Engagement im Irak führt, ob jetzt andere Länder tatsächlich stärker mit Truppen und Geld aushelfen werden, steht dahin. Für die USA also könnte die neue UNO-Resolution einen Sieg bedeuten, der vor allem innenpolitisch Entlastung schafft. Für den Irak bedeutet sie wohl nicht einmal das."


Abschließend einen Blick in den Wiener STANDARD:

"Mit der Zustimmung der einst heftigsten Kriegsgegner Frankreich und Deutschland zur neuen UNO-Irak-Resolution ist so etwas wie ein Burgfrieden im transatlantischen Verhältnis eingetreten. Paris und Berlin machen zwar klar, dass sie nach dem Krieg, den sie nicht verhindern konnten, auch die US-Normalisierungspläne für den Irak in der vorliegenden Form nicht billigen; aber sie haben mit ihrem Ja zur Resolution ein UNO-Mandat für die Besatzungstruppen ermöglicht und damit den USA wenigstens psychologisch zu einer Entlastung verholfen."