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Politik

Presse: Attentat politisch desaströs

20. Dezember 2016

Die internationalen Medien reagieren auf das Berliner Attentat vorsichtig. Zwar ist die Identität des Angreifers noch unbekannt. Doch viele Zeitungen hegen eine Vermutung. Aus ihr ziehen sie unterschiedliche Schlüsse.

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Bild: picture alliance/dpa/C. Charisius

Vieles habe darauf hingedeutet, dass der Vulkan schon brodelte, bereit zum Ausbruch war. Mit einer dramatischen Metapher umreißt die italienische Tageszeitung "Corriere della Sera" das Attentat von Berlin. Sie hält einen islamistischen Hintergrund für wahrscheinlich, legt sich aber noch nicht endgültig fest. Angesichts vorhergehender Anschläge hätten die Deutschen sich gewappnet und zahlreiche  Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Doch es gebe zahllose Mittel, einen Anschlag durchzuführen. Und eines habe nun offenbar Erfolg gehabt. 

Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Die italienische Zeitung "La Repubblica" warnt vor überzogenen Reaktionen: "Der schlimmste Irrtum den wir begehen könnten, wäre der, auf die Brutalität einiger Weniger mit einer diskriminierenden Haltung gegenüber den Vielen zu reagieren, die hier Asyl suchen.Seit 15 Jahren (seit den Anschlägen in New York 11.09.2001, Anm. d. Red.) erinnern wir daran, dass es sich hier auch um einen Krieg der Zivilität handelt, in dem allein die Verteidigung unserer demokratischen Werte, des Respekts und der Solidarität eine Barriere gegen den Terror bilden kann."

Gefahr des Populismus

Ähnlich sieht es auch die britische Zeitung "The Guardian": Furchtbare Taten wie die von Berlin seien Vorboten dessen, was noch komme. Allerdings: Islamistisch-terroristische Fanatiker und die im Westen aufsteigende populistische Rechte arbeiteten Hand in Hand. "Sie nähren sich gegenseitig. Sie sind voneinander abhängig."

Doch die größere Gefahr sieht der Guardian offenbar bei den Populisten: "Der Hass auf Muslime - und mit ihm der Ruf nach kollektiver Bestrafung - wird wachsen. Zivile Freiheiten werden zurückgedrängt. Diejenigen, die sich auf Seiten der Linken gegen Rassismus wenden und für ein Mitgefühl gegenüber Flüchtlingen einstehen, werden zunehmend als innerere Feinde betrachtet." Das werde die Demokratie langfristig aushöhlen, fürchtet der Guardian.  "Der Westen wird seinen unaufhaltsamen Niedergang fortsetzen - nicht wegen der Bedrohung durch eine `Islamisierung`, sondern zu Teilen, aufgrund der politischen Konsequenzen, die aus der Furcht vor Muslimen und Fremden resultieren."

Deutschland Gedächniskirche in Berlin
Trauer in Berlin: Stilles Gedenken in der GedächtniskircheBild: Reuters/P. Kopczynski

Kanzlerin unterschätzte Risiken ihrer Politik

Ganz anders sieht es der Sicherheitsexperte Hugues Moutouh im französischen "Figaro". Man müsse einsehen, dass kein europäisches Land vor Anschlägen mehr sicher sei. Dies gelte vor allem dann, wenn es sich - wie Deutschland - an der internationalen Koalition gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat" beteilige. Das aber bedeute: "Alle politisch Verantwortlichen in Europa müssen aus dem neuen Drama eine Lektion lernen: Ein Land muss zuerst seine Bevölkerung schützen, bevor es seine guten Gefühle offenlegt. Die deutsche Kanzlerin hat klar das Risiko unterschätzt, das sie ihrem Land und den europäischen Nachbarn auflud, als sie Deutschlands Grenzen öffnete."

Die Zeitung "Le Monde", ebenfalls aus Frankreich, sieht die deutsche Kanzlerin geschwächt. Bislang sei es Merkel gelungen, sich als Garantin der Sicherheit zu präsentieren. "Doch seit einem Jahr hat dieses Image deutlich Schaden genommen. Vor allem ein Ereignis schuf ein grundlegendes Trauma: die sexuellen Angriffe, deren Opfer in der Silvesternacht von 2015 auf 2016 rund 1200 Frauen wurden." Eine ähnliche Wirkung könnte nun der Berliner Anschlag haben: "Wenn dieses Attentat politisch desaströs werden könnte, so darum, weil es Frau Merkel in eine selbstgestellte Falle laufen lässt. Sie, die seit den Vorfällen von Köln gezwungen war, Sicherheit zur obersten Priorität zu erheben, sieht sich mehr als je dazu genötigt, sich den Kassandra-Rufern zu stellen, die seit Monaten erklären, die Kanzlerin habe die Kontrolle über das Land verloren."

Vertrauensverlust der Bürger

Auch die niederländische Zeitung "NRC Handelsblad" beschäftigt sich mit der Kanzlerin. Für das Gefühl, dass Deutschland die Kontrolle über die Flüchtlingskrise verloren habe, werde Angela Merkel persönlich verantwortlich gemacht. Es dürfte schwierig für sie werden, die Zweifel der Bürger zu zerstreuen, glaubt die Zeitung. "Selbst wenn Merkel und ihre Regierung die Zügel in der Flüchtlingspolitik längst straffer gezogen haben und die Zahl der nach Deutschland kommenden Asylbewerber im Laufe dieses Jahres scharf zurückgegangen ist, steht Merkel in dieser Hinsicht in der Defensive." Und das zu einem für sie und ihre Partei entscheidenden Zeitpunkt: "Im nächsten Jahr werden die Wahlen stattfinden."

Polen Besitzer der Expeditionsfirma aus Stettin Ariel Zurawski
Anschlag mit internationalen Auswirkungen: Der polnische Besitzer des entführten LKWs im Gespräch mit den Medien. Bild: Reuters/Stringer

Die polnische Zeitung "Rzeczpospolita" geht davon aus, dass der Anschlag auch das Verhältnis vieler deutscher Bürger zu den Flüchtlingen verändern werde. Der Anschlag, nimmt die Zeitung an, könnte das Land grundsätzlich verändern: "Viele Deutschen unterstützen Merkels Flüchtlingspolitik nicht, denn viele nehmen sie als die größte, vielleicht sogar als tödliche Gefahr für die Sicherheit wahr." Das, nimmt die Zeitung an, werde vor allem der fremdenfeindliche Alternative für Deutschland (AfD) in die Hände spielen. Die werde zwar die anstehenden Wahlen nicht gewinnen. "Aber Deutschland nach dem Berlin-Anschlag wird nicht mehr dasselbe Deutschland sein".

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika