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Integration der arabischen Sunniten entscheidend für Zukunft des Irak

15. Dezember 2005

Die Zeit der Übergangsregierungen soll vorbei sein, die Iraker haben erstmals über ein reguläres Parlament abgestimmt. Rückt damit der Frieden im Land näher? Nahost-Experte Ferhad Ibrahim antwortet in einem Gastbeitrag.

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Die Frage der Legitimation des politischen Systems im Irak wird nicht mehr gestellt. Kein vernünftiger Mensch wird die Schritte, die seit 2003 gegangen worden sind, als illegitim betrachten. Das liegt vor allem daran, dass es keine Alternative zur neuen Ordnung gibt. Dies ist letztendlich auch das Motiv der arabischen Staaten, vertreten durch die Arabische Liga, die neue Ordnung im Zweistromland im vergangenen Oktober anzuerkennen.

Ihr Vorhaben alle Iraker an den Verhandlungstisch zu bringen, fand ein großes Echo in Bagdad. Der "nationale Dialog“, der auch den "legitimen Widerstand“ einschließen soll, soll nach den Wahlen fortgesetzt werden. Lediglich die Gruppe El-Kaida in Mesopotamien, also jene Gruppe, die von dem Jordanier Abu al-Masab al-Zarqawi angeführt wird, wird ausgeschlossen. Al-Zarqawi, der seinen Heiligen Krieg regionalisieren will, denkt sowieso nicht daran, mit den "Ungläubigen“ und "Abtrünnigen“ und deren amerikanischen Freunden Verhandlungen zu führen.

Sehnsucht nach Sicherheit

Was werden die Wahlen nun für die Iraker bringen? Sie erhoffen sich vor allem Sicherheit. Dabei gibt es eine Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach jener Zeit, als man in Bagdad, Mosul oder Kirkuk wagte, auf die Straße zu gehen. Diese Nostalgie bedeutet jedoch in keinster Weise, dass sich die Iraker nach der Wiederherstellung des Status quo ante, also nach der Restauration der Diktatur der Baath-Partei, sehnen.

Tatsächlich haben die amerikanischen Truppen und die neue irakische Armee und Polizei - sie werden bereits seit zwei Jahren für die Sicherheitsaufgaben intensiv vorbereitet - ihr Ziel, die Anschläge der Jihadisten zu reduzieren und die gefährlichen Gruppen, wie die El-Kaida, auszumerzen nicht erreicht. Die Jihadisten drangen sogar schon bis in die Grüne Zone von Bagdad vor, jene Hochsicherheitszone, in der die amerikanischen und irakischen Schaltstellen untergebracht sind. Die Bush-Regierung gerät immer mehr unter Druck: Die Debatten über den Irak-Einsatz erinnerten in den USA inzwischen an die Debatten während des Vietnam-Krieges, stellt das Magazin Newsweek in seiner jüngsten Ausgabe fest. "Bloß keine Panik“, ruft deshalb Fareed Zakaria, Kolumnist beim genannten Magazin.

Mitwirkung der Sunniten entscheidend

Als Beobachter der Entwicklung des Irak kann man feststellen, dass die Parlamentswahlen im Irak ein notwendiger Schritt sind, um das System demokratisch zu legitimieren und den Aufbau der Institutionen zu vervollständigen. Wichtig ist dabei eine Teilnahme der arabischen Sunniten: Sie scheinen sich nun aus der politischen Isolation bewegen zu wollen, in die sie geraten waren, als sie die Wahlen im Januar sowie das Verfassungsreferendum im August boykottiert hatten. Eine angemessene Beteiligung der arabischen Sunniten in den Institutionen könnte den Aufständigen den Boden unter den Füßen wegziehen.

Es ist kein Geheimnis, dass der Widerstand arabisch-sunnitisch ist. Der schiitische "Widerstand“ um den geistlichen Muqtada al-Sadr hat andere Motive als der sunnitische Widerstand. Die Sunniten fürchten Machtverlust und Marginalisierung im neuen Irak. Diese Angst ist berechtigt, denn die Sunniten – sie stellen rund 20 Prozent der Bevölkerung – können heute im Gegensatz zur Zeit vor 2003 kaum führende Positionen für sich beanspruchen; den Widerstandskämpfern um al-Sadr, der sich inzwischen aber auch am politischen Leben des Landes beteiligt, ging es vor allem darum, die Position in der schiitischen Gemeinschaft zu stärken.

Lesen Sie im zweiten Teil, welche politischen Bündnisse bei den Wahlen die größten Chancen haben und welchen Herausforderungen sie sich künftig stellen müssen.

Brüchige politische Bündnisse

Der politische Konfessionalismus scheint aber trotz der Erfolge der konfessionalistischen Parteien bei den letzten Wahlen und trotz des Proporzsystems bei der Verteilung von Ämtern, nicht zukunftsträchtig zu sein. Der politische Konfessionalismus ist in den vergangenen drei Jahren in Verruf gekommen. In einigen schiitischen Hochburgen, zum Beispiel in Basra, führte die Übermacht der beiden großen schiitischen Parteien al-Dawa und des Obersten Rates der islamischen Revolution (SCIRI) zur Etablierung eines Systems, das alles ablehnte, was nicht "islamisch“ - sprich "fundamentalistisch“ - ist. Staatliche Universitäten und Ämter wurden zur Domäne der frommen Männer der beiden Parteien. In der neuen Armee und Polizei wurden konfessionalistische und ethnische Differenzen ausgetragen. Als vor einer Woche der Verteidigungsminister hohe kurdische Offiziere verlegen wollte, sprachen die kurdischen Politiker von einem Putsch. Der Minister musste seine Entscheidung rückgängig machen.

Die nichtkonfessionellen Parteien, etwa die "Irakische Nationale Liste“ des ehemaligen Ministerpräsidenten Iyad al-Allawi, einige sunnitische Gruppen und die Kommunistische Partei des Irak, die einst eine der starken Parteien des Landes war, werden sehr wahrscheinlich in der Opposition bleiben. Die sunnitische "Irakische Islam-Partei“ (IIP) könnte die meisten Stimmen der arabischen Sunniten erhalten. Die größeren Blöcke werden weiter die "Kurdische Allianz“ und die schiitische "Vereinigte Irakische Allianz“ (UIA) bleiben. Sie werden, wahrscheinlich unter Beteiligung der Irakischen Islamischen Partei die neue Regierung bilden, aber nach langen Verhandlungen.

Selbst die Allianz zwischen den Schiiten und Kurden war in den vergangenen Monaten brüchig geworden. Der derzeitige Übergangspräsident Dschalal Talabani, Führer der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), vertrat völlig andere politischen Positionen als Übergangsministerpräsident und Führer der al-Dawa-Partei, Ibrahim al-Dschafari. Die alten Differenzen werden die Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung nicht gerade leicht machen.

Föderalismus-Frage bleibt Streitpunkt

Drei Fragen werden die politischen Kräfte, einschließlich der sunnitischen Irakischen Islamischen Partei, herausfordern. Der Verbleib der ausländischen Truppen, die damit verbundene Sicherheitsfrage und die Frage des Föderalismus. Die erste und die zweite Frage sind abhängig von der politischen "Integration“ der arabischen Sunniten im neuen System. Sollte diese gelingen, werden die Intervention der Nachbarstaaten und die Aktivitäten der extremistischen Islamisten merklich nachlassen.

Die Frage des Föderalismus wird weiter strittig bleiben. Die arabischen Sunniten haben im Fall der Kurden kein Problem damit, diesen mehr Selbstständigkeit zu gewähren. Dies haben sie seit 2003 immer wieder verkündet. Sie lehnen allerdings die Föderalisierung der schiitischen Gebiete ab. Denn die föderale Ordnung, wie sie in der neuen irakischen Verfassung festgeschrieben ist, sieht eine größere Mitwirkung der regionalen Regierungen vor bei der Erdölförderung, darüber hinaus erhalten sie einen Teil der Erlöse aus dem Öl-Geschäft. Während in den schiitischen Gebieten die größten Erdölreserven des Irak liegen, wurde in den sunnitischen Teilen des Landes bislang kein Erdöl entdeckt.

Insofern könnten die Wahlen den Beginn eines neuen Verteilungskampfes markieren. Die anvisierten nationalen Versöhnungsverhandlungen, die im November 2005 in Kairo angefangen haben, könnten somit zu einer Schicksalsfrage, auch für die USA, werden. Eine Spaltung des Landes durch einen Bürgerkrieg kann keineswegs in ihrem Interesse liegen. Nur eine Beruhigung der Lage im Irak könnte den USA einen schmachvollen Abzug à la Vietnam ersparen.

Ein Beitrag von Ferhad Ibrahim

Ferhad Ibrahim hält eine Professur des Deutschen Akademischen Austausch Dienstes (DAAD) an der University of Jordan in Amman. Der gebürtige Syrer kam 1971 erstmals nach Deutschland und lehrte u.a. an der FU Berlin und den Universitäten Postdam und Erfurt.