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Politik

Politik und Inklusion

Vera Kern
10. September 2017

Wähler mit Behinderung sind eine oft übersehene Minderheit. Dabei fordert die UN-Behindertenrechtskonvention, dass auch sie an Politik teilhaben. Ein Kurs in Heidelberg zeigt, wie das geht. Und zwar in leichter Sprache.

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Deutschland Silvan Bock und Cornelia Blauth in der Volkshochschule Heidelberg
Bild: DW/V. Kern

Silvan Bock genießt seinen Auftritt als Politiker. Der 28-Jährige aus Heidelberg ist an diesem Abend in die Rolle des CDU-Fraktionschefs geschlüpft. "Also der CDU ist wichtig, dass Deutschland keine Schulden macht", sagt er und unterstreicht seine Worte mit Gesten. Was noch? Ein kurzer Blick auf den Spickzettel. "Ach so, ja, Sicherheit ist noch sehr wichtig! Dass Deutschland besser überwacht wird." Gleich danach präsentiert David Bota, 38, die Grundwerte der SPD: "Ja, also Schule, Kindergarten, Studium - dass das gleichgerecht ist, damit sich da keiner benachteiligt fühlt."

Statt an diesem Abend mit ihren Freunden auszugehen, verbringen die beiden ihren Feierabend in einem Seminarraum der Volkshochschule in Heidelberg. Gemeinsam mit anderen nehmen sie am Kurs "Politik inklusiv – Jeder hat ein Recht auf Wissen" teil. Ein Kurs, in dem sich Menschen mit Behinderung sechs Abende lang auf die Bundestagswahl vorbereiten. Ziel ist es, aktiv Wahlbehinderungen abzubauen.

Deutschland Silvan Bock in der Volkshochschule Heidelberg
Wollte als kleiner Junge Kanzler werden: Silvan Bock beim Kurs "Politik inklusiv"Bild: DW/V. Kern

"Lernbehindert heißt ja nicht dumm"

"Jeder Mensch hat seine Stimme und die soll er auch zu Gehör bringen, egal ob er behindert ist", findet Silvan Bock. Der 28-Jährige interessiert sich schon seit seiner Kindheit für Politik. Als kleiner Junge träumte er davon, Bundeskanzler zu werden. Wählen gehen ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Genauso selbstverständlich, wie einen normalen Arbeitsplatz zu haben. Silvan Bock hat an einer Förderschule seinen Hauptschulabschluss gemacht. Seit zehn Jahren arbeitet er in einer Einrichtung, in der Kleinkinder betreut werden.

"Lernbehindert heißt ja nicht dumm", sagt Silvan Bock. Er ist sehr am politischen Geschehen interessiert. Die Bekämpfung des Klimawandels ist ihm wichtig, außerdem der Mindestlohn und die internationalen Beziehungen zwischen Deutschland, Russland und den USA. "Ich finde es einfach sehr schlimm, was in der Welt zur Zeit los ist", sagt er.

Betroffene selbst reden lassen

Inklusion in Politik – ein Thema, das selbst viele Sozialverbände lange kaum beachteten. Lange Zeit ging es vor allem um Bildungund die Frage, wie Menschen mit Behinderung möglichst selbständig leben und arbeiten können. Die politische Partizipation dieser Minderheit war dabei nicht im Fokus.

Leben im Rollstuhl
Der Alltag stellt viele Menschen mit Behinderungen vor ProblemeBild: picture-alliance/R. Schlesinger

"Es ist wichtig, nicht nur über Menschen mit Behinderung zu sprechen, sondern die Menschen mit Behinderung selber sprechen und entscheiden zu lassen", betont Ralf Baumgarth, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Heidelberg, der die Fortbildung mitentwickelt hat. Der Kurs solle "Übersetzungshilfe" leisten.

Sprachbarrieren abbauen

Das ist durchaus wörtlich zu verstehen: "Halt! Bitte leichte Sprache" steht auf kleinen roten Zetteln, die überall auf den Tischen herumliegen. Es sind Stoppschilder, die immer dann gezückt werden können, wenn komplizierte Formulierungen oder unbekannte Fremdwörter benutzt werden. "Solidarität", "Kabinett" oder "Mietpreisbremse" zum Beispiel. Dann erklärt der Dolmetscher, Steffen Schwab vom Büro für leichte Sprache der Lebenshilfe Heidelberg, was es damit auf sich hat.

Denn Inklusion scheitert oft schon an der Sprache. Hier will der Kurs Abhilfe schaffen.

Deshalb heißt es jetzt erstmal: das Einmaleins des demokratischen Systems lernen. "Wie ist der Bundestag aufgebaut?", will Kursleiter Sebastian Jähnke wissen, Pädagoge bei der Lebenshilfe Heidelberg. Er pinnt Zettel mit Grundbegriffen wie "Fraktion" oder "Opposition" an ein Flipchart. Gar nicht so leicht für viele: "Was war nochmal eine Fraktion?", will einer wissen.

Deutschland Bundestagswahl Stimmzettelschablone für Blinde
Rein formal wird bei der Bundestagswahl an alle gedacht: Stimmzettel für BlindeBild: picture-alliance/dpa/M. Andi Weiland

Bewegung in Köpfe bringen

Für Menschen, denen das Lesen und Schreiben schwer fällt, mag Politik oft wie eine Wissenschaft für sich erscheinen. Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Wahlbenachrichtigung. Auch Wahlprogramme sind wahrlich keine einfache Lektüre. Es gilt, wohlklingende Politikerparolen zu entschlüsseln und einzuordnen. Oft steigen viele Leser dann einfach aus – oder gar nicht erst ein.

Das beobachten zumindest die Dozenten Sebastian Jähnke und Felix Stang. "So abgedroschen die Floskel klingt: Die größten Barrieren sind nach wie vor die im Kopf", meint Jähnke. In der Öffentlichkeit herrsche oft die Meinung vor, der Gang zur Wahlurne sei für Menschen mit Behinderung sowieso nicht interessant. Sie würden oft gar nicht erst mitgedacht. Es sei deshalb wichtig, Bewegung in die Köpfe zu bringen. Und Zugänge zu Politik zu ermöglichen. "Politische Inklusion versucht, alle zu beteiligen, sich über das auch auszulassen, worüber sie sich aufregen und etwas zu verändern", erklärt Stang.

Kursteilnehmer David Bota erzählt, er fühle sich von Politik oft nicht angesprochen. "Ich habe früher gedacht, Menschen mit Einschränkungen - so wie ich -  müssten sich aus diesem ganzen Bereich Politik irgendwie raushalten." Dabei interessiert ihn "Auslandspolitik", wie er es nennt. Nachrichten über Trump oder die Türkei verfolgt er genau.

Deutschland David Bota in der Volkshochschule  Heidelberg
Freut sich nach dem Kurs jetzt auf die Bundestagswahl: David BotaBild: DW/V. Kern

Wahlrecht für alle

Viele Parteien bieten ihre Wahlprogramme inzwischen in leichter Sprache an. Das soll Wählern mit Lernbehinderung die Wahlentscheidung erleichtern. Ein Nebeneffekt: Texte mit einfacheren Worten helfen auch vielen Migranten, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Von der Wahl ausgeschlossen sind allerdings nach wie vor rund 80.000 Behinderte in Deutschland. Weil sie zum Beispiel dement oder stark geistig behindert sind und deshalb "in allen Angelegenheiten" einen gesetzlichen Betreuer haben. Bei Sozialverbänden stieß diese Regelung jüngst erneut auf Kritik.

Die Teilnehmer des Kurses dürfen alle an der Bundestagswahl am 24. September teilnehmen. Am Ende von "Politik inklusiv" wird es auch um den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme gehen. Darum, wie man sein Kreuz so macht, dass der Wahlzettel nicht ungültig ist. Auch diese eher praktische Frage kann eine Hürde sein. Doch letztlich geht es um mehr als die reine Stimmabgabe.

Selbst politische Entscheidungen treffen, für die eigenen Belange einstehen – all das will "Politik inklusiv" vermitteln. Kursteilnehmer David Bota sagt, er interessiere sich nun mehr für Politik. Sein Fazit: "Auch Menschen wie wir haben ein Mitspracherecht." Und Silvan Bock ergänzt: "Ich freue mich jetzt richtig auf die Bundestagswahl."