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Indien muss nachsitzen

23. August 2010

Ein neues Gesetz in Indien soll jedem Kind im Alter zwischen sechs und vierzehn Jahren eine kostenlose Schulbildung ermöglichen. Doch vielen der rund acht Millionen nicht eingeschulten Kinder wird das nicht helfen.

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Manisha ist ein 12-jähriges Mädchen, sie trägt Lehmziegel auf dem Kopf; im Hintergrund stapeln Männer Ziegeln in einer Ziegelei
Arbeiten statt Schule, heißt es für ManishaBild: Pia Chandavarkar

Der Ventilator dreht sich schnell und laut an der Decke des Ziegelsteinhauses. Die einzige Glühbirne wirft ihr schwaches Licht an die Wände. In diesem winzigen Zimmer wohnt die zwölfjährige Manisha Khandavale mit ihren Eltern und drei Geschwistern. Der Ort Tathawade liegt im westindischen Bundesstaat Maharashtra. Manisha und ihr jüngster Bruder sind zu Hause, ihre Eltern sind bei der Arbeit. Manisha räumt das Geschirr zusammen und kehrt den Boden mit einem kleinen Strohbesen.

Kleine Haushälterin

Manisha scheint ernst und nachdenklich. Selten lächelt das stille Mädchen. Schon seit zwei Jahren kümmert sie sich um den Haushalt. Ihre Eltern arbeiten in der Ziegelproduktion und sind den ganzen Tag beim Ziegelofen in dem Dorf Tathawade, etwa 25 Kilometer von der Millionen-Stadt Pune entfernt.

Mit der Morgendämmerung fängt für die Familie der Tag an. Auch Manisha steht mit ihren Eltern früh auf. Sie bereitet das Essen vor, wäscht die Kleider und das Geschirr. Erst am späten Morgen darf Manisha Zeit für sich selbst haben. Sie besucht eine Ferienschule der Nichtregierungsorganisation "India Sponsorship Committee". Hier lernt sie mit anderen Kindern zusammen neue Lieder, Hand- und Näharbeiten. Es ist jedoch keine richtige Schule, die musste das Mädchen vor zwei Jahren abbrechen. Sie scheint sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. "Ich möchte in die Schule, aber es war zu teuer, und ich musste auf meinen jüngeren Bruder aufpassen. Es gab sehr viel Arbeit zu Hause", sagt sie.

Kinder sitzen in einer Gruppe unter einem Baum auf dem Boden, sie besuchen eine Ferienschule
Manisha geht hin und wieder in eine FerienschuleBild: Pia Chandavarkar

Ziegel statt Bücher

Manisha hat auch andere Pflichten. Seit zwei Jahren hilft sie ihren Eltern bei der Ziegelproduktion. "Bis 16.30 Uhr muss ich Ziegel transportieren. Danach bereiten wir Sand für den Ton vor, der morgen gebraucht wird", erzählt das Mädchen.

Die Sonne knallt, es ist über 40 Grad heiß. Doch die stechende Hitze darf bei der Ziegelproduktion nicht abschrecken, in der Mittagszeit ist Hochbetrieb am Ziegelofen. Die unfertigen Ziegel werden von einer Handvoll Frauen in der Mitte des Hofes zu einem großen Stapel zusammengetragen. Die Männer nehmen die Steine und legen sie übereinander - darunter liegt eine Schicht Kohle. Hier sollen die Ziegelsteine später am Abend gebrannt werden - dann sind sie fertig.

Manisha wickelt sich ein Tuch um den Kopf und legt ein Holzbrett darüber. Zusammen mit den anderen Frauen trägt sie nun die Ziegelsteine zum Ofen. Einen Ziegel nach dem anderen hebt die Zwölfjährige fast mühelos hoch über den Kopf und stapelt sie auf das Holzbrett. Sechs Ziegel kann sie auf einmal tragen. Am Tag muss sie 25 solcher Stapel schleppen. Dafür bekommt sie 17 Rupien - kaum 30 Cent.

Balu und Sarita Khandavale vor ihrem Ziegelsteinhaus in Tathawade.
Manishas Eltern vor ihrem Haus in TathawadeBild: Pia Chandavarkar

Manishas Eltern wissen, dass Kinderarbeit gesetzlich verboten ist und dass ihre Tochter in die Schule gehen sollte. Aber sie hatten keine andere Wahl, bedauert Manishas Mutter Sarita Khandavale: "Die Schule ist weit weg, es ist sehr schwierig, sie dahin zu bringen. Außerdem können wir uns die Kosten nicht leisten. Wir müssen so hart arbeiten, nur damit wir genug zu essen haben. Für die Schule muss man viel kaufen - Uniform, Schulranzen, Bücher, Bleistifte. So viel können wir gar nicht verdienen."

Nach dem neuen Schulpflichtgesetz soll die Grundschulbildung seit dem 1. April 2010 gebührenfrei sein. Aber die Khandavales - wie auch viele andere Familien aus den ärmeren Schichten - wissen nichts davon. Eine kostenlose Bildung können sie sich kaum vorstellen. Die staatliche Schule in Tathawade behauptet, sie hätte von der Regierung die offiziellen Anweisungen zu dem neuen Gesetz noch nicht erhalten. Deshalb verlangt die Schule auch in diesem Jahr Aufnahmegebühren von fast zehn Euro. Dazu kommen noch monatliche Gebühren von rund drei Euro pro Kind.

Neues Gesetz bleibt unklar

Manishas Eltern verdienen knapp 32 Euro im Monat. Damit müssen sie die ganze Famile ernähren. Die Schulgebühren für vier Kinder sowie Unterrichtsmaterial und Beförderung sind für sie zu teuer. Im Gesetz steht nicht, ob der Staat für Kinder wie Manisha auch solche Nebenkosten übernehmen wird.

So entschieden Manishas Eltern, dass ihre älteste Tochter zum monatlichen Familieneinkommen beitragen soll, die zwei jüngeren Töchter und der jüngste Sohn dürfen zur Zeit die Schule besuchen - solange es geht.

Der Weg zur staatlichen Schule in Tathawade ist oft gefährlich; hat keine Fußwege, und wird in der Regenzeit überschwemmt.
Der Weg zur staatlichen Schule in Tathawade ist oft gefährlichBild: Pia Chandavarkar

Doch auch für die Kinder, die zur Schule gehen können, sind die Umstände nicht immer einfach. Die Ziegelöfen sind weit abgelegen vom Zentrum des Dorfs. Zur Schule müssen die Kinder rund drei Kilometer laufen. Die verkehrsreiche Straße hat keine richtigen Fußwege und ist in der Regenzeit überschwemmt. Viele Eltern in der Nachbarschaft der Khandavales wollen ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken, weil ihnen der Weg zu gefährlich ist.

Eine große Herausforderung für Indiens neues Bildungsgesetz. Denn ein Recht auf Bildung allein reicht nicht, es muss auch umgesetzt werden. Deswegen fordern viele Eltern Schulen in Wohnortnähe und Hilfe für Kinder wie Manisha. Kinder, die sonst keinen Zugang zur Schulbildung haben.

Autorin: Pia Chandavarkar
Redaktion: Ana Lehmann