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Im Frauengefängnis

Geraldo Hoffmann (stl)26. November 2006

Mitte 2006 organisierte die Mafiaorganisation PCC Revolten in den überfüllten Gefängnissen von São Paulo. Seitdem ist Journalisten der Zutritt zu Haftanstalten verboten. DW-WORLD kam trotzdem in eine hinein.

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Einfahrt zum Santana-Gefängnis
Das Santana-Gefängnis: Fotografieren ist nur außen erlaubtBild: DW/Geraldo Hoffmann

Die Rua da Consolacão in São Paulo, die "Straße des Trostes", ist bekannt unter den Angehörigen von Häftlingen. Im Haus Nummer 21 bekommen sie Seelenbeistand von Priester Valdir Silveira. Er gehört zur katholischen Organisation Pastoral Carcelaria, die mit ihren 800 Mitarbeitern den 144.000 Häftlingen im Bundesstaat São Paulo unterstützt. Mehr als 700 Briefe im Monat aus den Gefängnissen bearbeiten Silveira und seine Leute.

Brennender Bus in São Paulo
Im Mai kam es in São Paulo zu schweren Straßenschlachten, angezettelt von der PCCBild: AP

Silveiras Organisation ist eine der wenigen, die noch Zutritt zu den Gefängnissen hat. Nach den blutigen Aufständen der mafiaartigen Gruppierung "Erstes Hauptstadtkommando" (PCC) zwischen Mai und Juli ist der Zutritt stark eingeschränkt. Das von Drogenbossen und anderen Kriminellen vom Gefängnis aus angeleitete PCC hatte zu Revolten angestachelt. Bis zu 200 Menschen starben.

Journalisten kommen nur in die Haftanstalten, wenn sie tricksen. Silveira ruft die Leiterin des Frauengefängnisses Santana im Norden der Stadt an, ob er bei einer seiner Besuche einen "Freund aus Deutschland" begleiten dürfe. Es funktioniert.

Drei schwere Stahltüren

Mit der U-Bahn geht es zum Santana-Gefängnis. Es wurde erst im Dezember 2005 eröffnet und ist in einem der Gebäude des ehemaligen Carandiru-Gefängniskomplexes untergebracht, der einmal die größte Haftanstalt Lateinamerikas war und vor vier Jahren geschlossen wurden. Am 2. Oktober 1992 war es hier zu einer der blutigsten Gefängnisrevolten der Geschichte gekommen. Die Militärpolizei tötete bei der Niederschlagung der Rebellion 111 Häftlinge. Dieses Massaker gilt als Geburtsstunde der Organisation PCC.

Die Sicherheitskontrollen in Santana sind wie erwartet scharf, auch wenn sie in einem Raum stattfinden, der an eine Baustelle erinnert. Man passiert einen Metalldetektor, wird abgetastet, persönliche Gegenstände bleiben draußen. Zunächst passiert man drei schwere Stahltüren, dahinter sind die ersten Häftlinge zu sehen: Sie tragen weiße Hemden und gelbe Hosen. Es ist laut. Die Wärter schreien Anordnungen, die Frauen hinter Gitter hämmern mit den Fäusten gegen die Türen, brüllen, kreischen.

Warten auf die Zellennummer

"Das geht jetzt schon seit Tagen so", sagt eine Wärterin. "Jeden Tag bekommen wir 60 Häftlinge mehr aus anderen Gefängnissen. Wir sind am Anschlag. Eigentlich passen in die Frauen-Haftanstalt nur 2.400 Gefangene, im Moment haben wir 2.580."

Durch eine halboffene Tür sieht man die Neuankömmlinge. Sie lungern auf alten Schaumstoffmatratzen, in den Händen halten sie Plastiktüten mit ihren Habseligkeiten, ihre Kleider haben sie in Bettlaken eingewickelt. Sie werden einzeln aufgerufen und bekommen ihre Zellennummer.

Es geht weiter durch die Flure, vorbei an Gemeinschaftsräumen. Drei Frauen schieben einen Karren voller Müllsäcke vor sich her. Plötzlich stöhnt eine dicke Frau auf. Sie hat offenbar einen Schwächeanfall, liegt auf dem Boden. Ein paar Frauen eilen herbei, versuchen sie wieder aufzurichten, doch die Frau ist zu schwer. Die Häftlinge werfen die Müllsäcke auf den Boden und rollen die Frau auf den Karren, um sie in die Krankenstation zu fahren.

Als eine andere Gefangene das sieht, ruft sie, sie habe hohen Blutdruck: "Ich brauche auch einen Arzt!" Sie kreischt und rüttelt an den Gitterstäben. Eine Stimme vom Ende des Flures antwortet: "Dafür brauchst du einen Termin". Der Lärmpegel schwillt an, andere Gefangene stimmen in das Gekreische mit ein. Am Ende darf die Frau auch zur Untersuchung.

Gefängnispersonal ist überarbeitet

Eine Wärterin beklagt sich über die Zustände im Zellentrakt. "Gerade einmal vier Beamte sind für 843 Häftlinge zuständig. Wir arbeiten 12 Stunden, zwischen sieben Uhr und 19 Uhr. Dieser Lärm hört nie auf. Das ist zum Verrücktwerden."

Im Gefängnishof sitzen ein paar Frauen in der Sonne. Andréa Dias ist wegen Mord zu 18 Jahren verurteilt. 11 hat sie schon abgesessen, das sind so viele Jahre, wie ihre Tochter alt ist. "Seit einer Woche haben wir kein Wasser in den Zellen", beklagt sie sich. Ihre Mitgefangenen schimpfen über das Essen. Das sei oft kalt und schmecke bitter. Regiane Clementina da Silva, die eine 10-jährige Strafe wegen bewaffneten Raubüberfalls verbüßt, wartet seit einem Jahr darauf, in den halboffenen Vollzug zu wechseln. Bis heute hat sie keine Antwort erhalten. Laut Priester Silveira gibt es im Bundesstaat São Paulo mehr als 1.500 Häftlinge, die eigentlich ein Recht auf halboffenen Vollzug haben.

Am Ende ist ein kurzes Gespräch mit der Leiterin des Gefängnisses möglich. Sie arbeitet seit 35 Jahren im Strafvollzug und räumt ein, dass die "Zustände in Santana nicht allen Erwartungen der Häftlinge entsprechen". Der Staat gebe sein Bestes. "Aber auch wenn er 130 Prozent geben würde - die Frauen wären nie zufrieden."