1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Medizinstudenten üben Abtreibungen an Papayas

Nancy Isenson sam
14. Mai 2018

Ärzte für Abtreibungen sind in Deutschland schwer zu finden. Auch im Medizinstudium werden Schwangerschaftsabbrüche kaum thematisiert. Bei "Medical Students for Choice" in Berlin schaffen Papayas Abhilfe.

https://p.dw.com/p/2xftK
Berlin - Medizinstudent*innen lernen Schwangerschaftsbrüche anhand von Papayas durchzuführen
Bild: Medical Students for Choice Berlin

Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland kein seltenes Verfahren. Im Jahr 2017 wurden rund 101.200 Abtreibungen durchgeführt. Das entspricht 277 Eingriffen pro Tag. Für die zukünftige Ärztin Alicia Baier ein beunruhigender Zustand, denn Abtreibung spielen in ihrem Studium an der Berliner Charité kaum eine Rolle: "In sechs Jahren, in denen wir viele Details lernen, die wir später nicht brauchen werden, erfahren wir fast nichts über einen so wichtigen Eingriff."

Ende 2015 gründete Baier eine eigene Gruppe, um diesen Ausbildungsmangel an der medizinischen Fakultät zu beheben. Als sie mit Kommilitonen gesprochen habe, habe sie oft gehört: "Ich weiß nicht wirklich viel über das Thema, um darüber diskutieren zu können. Ich habe nicht den Eindruck, dass es ein Problem in Deutschland ist. Alles ist sicher gut organisiert.'"

Berlin - Medizinstudent*innen lernen Schwangerschaftsbrüche anhand von Papayas durchzuführen (Foto: Medical Students for Choice Berlin)
Abtreibung ja oder nein? Alicia Baier (Mitte) will Medizinstudenten eine Wahl bietenBild: Medical Students for Choice Berlin

Diese Haltung hält Baier für gefährlich. "Wer Gynäkologe wird, soll selbst entscheiden können, ob er Schwangerschaftsabbrüche durchführt", sagt sie. "Und wenn die angehenden Ärzte während ihres Studiums damit nicht in Kontakt kommen, haben sie nicht das Gefühl, dass es ein Problem ist. Stattdessen werden sie wahrscheinlich eher später sagen: Ich werde keine Abtreibungen anbieten." 

Papaya-Workshops

Baier und die anderen Studenten engagieren sich an der Charité bei "Medical Students for Choice", einer Studierendengruppe, die sich für reproduktive Rechte und gegen die strafrechtliche Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen einsetzt. Sie wollen, dass medizinische Fakultäten angehenden Ärzten die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen beibringen und dass das Tabu, das mit dem Eingriff verbunden ist, beseitigt wird. Dabei kommt ihnen eine Frucht zugute: die Papaya. Das klingt kurios, doch die Melonenbaumfrucht ist ein wichtiges Lehrmittel. Die Papaya von der Größe eines Brötchens ähnelt durch den weiteren runden hinteren Teil und den spitzer geformten Strunk an die Form eines Uterus. Die Kerne der Papaya lassen sich absaugen und auch die Beschaffenheit des Fruchtfleischs erinnert an die Muskelfasern im Uterus. Gynäkologen helfen den Medizinstudenten, in praxisorientierten Workshops Abtreibungen an dem "Papaya-Ersatz-Uterus" durchzuführen.

Berlin - Medizinstudent*innen lernen Schwangerschaftsbrüche anhand von Papayas durchzuführen
Angehende Ärzte operieren an dem Ersatz-UterusBild: Medical Students for Choice Berlin

Frage und Antwort

Dabei lernen die Studenten eine der beiden häufigsten Formen des Schwangerschaftsabbruchs: die Vakuum-Aspiration. Durch Saugen werden die Samen der Früchte entfernt. "Der Workshop macht deutlich, dass es sich nicht um eine extreme Operation handelt, sondern um eine relativ kleine und unkomplizierte 10-minütige Intervention", sagt Baier. Aber es gibt einen anderen, vielleicht wichtigeren Punkt für die Übung, sagt sie: "Es bietet eine Plattform, um mit Gynäkologen zu sprechen, die selbst Abtreibungen durchführen."

Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland strikt geregelt. Nur in einigen Ausnahmefällen darf der Eingriff durchgeführt werden: wenn er eine medizinische Notwendigkeit ist, wenn die Schwangerschaft durch Vergewaltigung verursacht wurde, oder wenn die Frau weniger als 12 Wochen schwanger ist und an einer Beratungssitzung teilgenommen hat. Diese Ausnahmeregelung bedeutet nicht, dass eine Abtreibung legal ist. Es heißt nur, dass weder die Frau, die ihre Schwangerschaft beendet, noch der Arzt, der dies durchführt, bestraft wird.

Symbolbild Abtreibungsdebatte (Foto: picture-alliance/Geisler-Fotopress)
Meine Wahl: Frauen kämpfen in Berlin für das Recht auf AbtreibungBild: picture-alliance/Geisler-Fotopress

Einen Arzt zu finden, der das Verfahren durchführt, ist jedoch schwierig. Ein großes Problem besteht darin, dass Fachärzte für den Eingriff nicht werben dürfen. Dieses "Werbeverbot" reicht so weit, dass sie keine Informationen über Abtreibungen auf ihren Websites veröffentlichen dürfen. Das Problem: Schwangere Frauen finden im Internet keine unabhängigen Informationen über Schwangerschaftsabbrüche. Entsprechende Inhalte stellen ausschließlich Abtreibungsgegner ins Netz.

Länder müssen Zugang gewährleisten 

Ein weiteres Problem ist, dass es immer weniger praktizierende Gynäkologen gibt, weil gerade viele Ärzte in Rente gehen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) werden Abtreibungen in rund 1.200 Einrichtungen durchgeführt. Das Amt kann jedoch nicht sagen, wie viele Ärzte Abtreibungen vornehmen. Ein Destatis-Mitarbeiter sagte, die Agentur sammele diese Informationen nicht, weil sie als Hilfe für das Durchführen von Abtreibungen betrachtet werden könnten. 

Die Website abtreibung.at des österreichischen Gynäkologen Dr. Christian Fiala hat sich in Deutschland zu einer bekannten Informationsquelle entwickelt. Sie beinhaltet eine Suchfunktion, die es Frauen in zahlreichen Ländern, vor allem aber in Deutschland, ermöglicht, den nächstgelegenen Abtreibungsarzt ausfindig zu machen. Unter abtreibung.at sind 1.141 Ärzte, Kliniken und Krankenhäuser registriert - davon 111 in Berlin und vier in Bonn, einer Universitätsstadt mit 320.000 Einwohnern. In Trier, einer Stadt mit 110.000 Einwohnern, die im Westen Deutschlands liegt, ist kein praktizierender Arzt auf der Liste. Eine Frau aus dieser Stadt muss mindestens 45 Kilometer ins Saarland fahren, um dort eine Abtreibung durchführen zu lassen.

Infografik Abtreibungen Deutschland nach Alter 2017 DEU

Um eine Abtreibung ohne Angabe von Gründen zu ermöglichen, muss eine schwangere Frau an Beratungssitzungen teilnehmen. Neben den katholischen und protestantischen Kirchen bietet pro familia, eine deutsche Nichtregierungsorganisation für Familienplanung, diese Sitzungen an. Der scheinbare Rückgang praktizierender Gynäkologen ist pro familia nicht entgangen, sagt Regine Wlassitschau, Pressesprecherin der Beratungsstelle.

Viele Ärzte gehen in Ruhestand

"Pro familia ist besorgt über Berichte aus zahlreichen Bundesländern, die auf Defizite bei Abtreibungen hinweisen", sagt sie. "Die Länder müssen ihre Pflicht erfüllen, eine angemessene Versorgung mit ambulanten und stationären Einrichtungen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu gewährleisten, wie dies vom Gesetz gefordert wird", so Wlassitschau weiter. Wenn sich der Trend fortsetze, werde es eines Tages keine Ärzte mehr geben, die diese Eingriffe vornehmen.

Abtreibungstourismus aus Polen nach Deutschland und Österreich Christian Fiala (Foto: Gynmed Ambulatorium)
Von Österreich nach Europa: Dr. Fiala will über Abtreibungen aufklärenBild: Gynmed Ambulatorium

Das Thema Abtreibung werde an der medizinischen Fakultät in Berlin erst am Ende des Studiums behandelt, sagt Alicia Baier, im neunten von zwölf Semestern: "Wir haben ein einziges Seminar, in dem das Thema erwähnt wird. Es heißt Voraussetzungen und Konsequenzen pränataler Diagnostik. Darum geht es auch hauptsächlich und da wird am Ende marginal, so etwa innerhalb von zehn Minuten, der Schwangerschaftsabbruch angesprochen - wenn man Glück hat. Es gibt auch Kommilitoninnen und Kommilitonen, bei denen das gar nicht zur Sprache kam, weil dann keine Zeit mehr war", sagt sie. Von den künftigen Ärzten wird erwartet, dass sie die rechtlichen und ethischen Aspekte der Abtreibung diskutieren und sich der "psychologischen Belastung im gesellschaftlichen Kontext" bewusst sein können. Obwohl sich jede Frau nicht belastet fühlt, fügt sie hinzu.

Leider ist es momentan vor allem eine Plattform für Frauen. Bislang engagieren sich nur wenige Männer bei "Medical Students for Choice", sagt Baier. Aber das würde sie auch gerne ändern: "Männer sind sehr willkommen."