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Besondere Beziehung

27. Oktober 2009

Durch den Putsch 1973 und einen chilenischen Schwiegersohn wurden Chile und die Solidarität mit den Sozialisten des Landes für Familie Honecker zur Chefsache. 5000 Exilanten nahm die DDR damals mit offenen Armen auf.

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Der chilenischen Dichter Gonzalo Rojas, Foto: Victoria Eglau
Der chilenischen Dichter Gonzalo Rojas ging auch ins Exil in die DDRBild: Victoria Eglau

"Liebe Zuschauer, die 'Aktuelle Kamera' hat Ihnen die neuesten Nachrichten zum Putsch gegen Chile übermittelt. Uns alle bewegt das Schicksal dieses Volkes, das seiner sozialen Errungenschaften beraubt werden soll!" – Das vermeldete am 12. September 1973, einen Tag nach dem Militärputsch in Chile, das DDR-Fernsehen. Nach der Machtübernahme der Junta mit General Augusto Pinochet an der Spitze setzte in Chile eine erbarmungslose Verfolgsjagd auf Anhänger des gestürzten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende ein. "Ein oder zwei Tage nach dem Putsch wurde ich angerufen von Leuten aus der DDR-Botschaft, und sie haben mir angeboten, hinzukommen", erinnert sich Hanns Stein. Der Sänger und seine Frau Choly waren  Mitglieder der Kommunistischen Partei Chiles, sie nahmen die Einladung aus der DDR an und begannen ein neues Leben in Ost-Berlin.

Aníbal Reyna, Foto: Victoria Eglau
Auch der Schauspieler und Sozialist Aníbal Reyna ging damals ins DDR-ExilBild: Victoria Eglau

Auch der Schauspieler und Sozialist Aníbal Reyna ging damals ins DDR-Exil. Der Tag der Ankunft hat sich ihm tief eingeprägt: "Wir kamen zu fünft, meine drei Kinder, meine Frau und ich. Wir waren erschöpft, wir wussten nicht, was mit uns passieren würde", erinnert er sich. Die Familie wurde am Flughafen abgeholt und in ein Hotel gebracht. "Am nächsten Tag hat man uns sehr früh abgeholt. In einem Kaufhaus konnten wir uns dann alles aussuchen, was wir zum Leben brauchten. Das war wie ein Traum", blickt Reyna zurück und scheint es auch heute noch nicht glauben zu können.

Hilfe und Propaganda

Honeckers Regierung griff den Flüchtlingen damals großzügig unter die Arme  - sie schlachtete diese Solidarität mit Chile allerdings auch propagandistisch aus. Die rund 5000 Chilenen, denen die DDR damals eine neue Heimat bieten wollte, bekamen sofort Wohnungen und Kredite für den Möbel-Kauf, ihre Kinder wurden in Schulen und Kinderkrippen untergebracht. Aníbal Reyna fand Arbeit als Schauspieler am Theater in Rostock, Hanns Stein wurde Gesangsprofessor an der "Hans-Eisler-Hochschule für Musik", und seine Frau Choly fing bei "Radio Berlin International" an.

Militärputsch in Chile 1973 - brennende Moneda in Santioago, Foto: ap
Am 11. September 1973 putsche das Militär unter Pinochet gegen den Sozialisten AllendeBild: AP

Doch nicht alle Emigranten hatten das Glück, in ihren Berufen weiterarbeiten zu können. Viele, auch Akademiker, wurden auf Weisung der mächtigen chilenischen Exil-Parteifunktionäre in der Produktion eingesetzt. "Nachher waren sie alle verzweifelt, weil sie irgendwo am Laufband in einer Autofabrik gearbeitet haben, aber eigentlich von Beruf Psychologen waren", erzählt Hanns Stein. Ehen seien damals aufgrund dessen in die Brüche gegangen, sogar Selbstmorde habe es gegeben.

 

Fleischkäufe in der Sauna

Familie Stein lebte in Berlin-Treptow in einem Haus mit deutschen Nachbarn. Viele andere Exilchilenen blieben hingegen in ihren Wohnblöcken unter sich. Einige erfuhren von den DDR-Bürgern Unterstützung, andere wurden wegen ihrer Privilegien beneidet. Unvergesslich für Hanns Stein: die Schattenwirtschaft, mit der er bei einem Sauna-Besuch zum ersten Mal in Berührung kam. Er sei angesprochen worden, wo er denn sein Fleisch kaufe. "In der Kaufhalle", habe er geantwortet. "Was, diesen Dreck kauft ihr?", habe der andere gemeint und sich als Fleischer entpuppt und später Hanns Stein seine Dienste angeboten: "Die Filets sind für die Freunde. Möchtest Du Filet?" Bei den Sauna-Genossen habe man alles bekommen – alles, was eigentlich nicht da war, schmunzelt Stein. Er revanchierte sich mit Einkäufen aus West-Berlin, denn als Künstler, der auch in der Bundesrepublik auftrat, besaß er ein Ausreisevisum.

Dieses Privileg wird nicht vielen Exilanten zuteil – in erster Linie den Politikern und Funktionären, die in der DDR die kommunistische und die sozialistische Partei Chiles vertraten. Die anderen durften noch nicht einmal in den Westteil, um beim dortigen Konsulat ihren Pass zu verlängern. Sowohl die SED als auch die chilenischen Partei-Führungen wollen so eine massive Ausreise in westliche Staaten verhindern, denn trotz aller Dankbarkeit: nicht wenige Emigranten wurden bald ernüchtert vom Leben im realexistierenden Sozialismus, so auch Aníbal Reyna: Er habe zum Beispiel zahlreiche Theaterstücke vorgeschlagen, die er gerne umgesetzt hätte, aber seine Ideen wurden nicht erlaubt. "Ich hatte zwar eine gute Wohnung, genug zu essen, einer meiner Söhne hat Film studiert, eine Tochter wurde zur Zahntechnikerin ausgebildet – für diese Dinge bin ich zweifellos dankbar", sagt er heute, "aber es gibt noch etwas, das ein Mensch braucht: sagen zu können, was er denkt, gehört zu werden, kritisiert zu werden, jemand zu sein. In der DDR hatte ich das Gefühl, niemand zu sein!"

FDJler des 'Berliner Centrum Warenhauses' veranstalteten am 12.5.1975 einen Solidaritätsbasar mit Gegenständen, die zum Teil von chilenischen Frauen hergestellt wurden, Foto: Bundesarchiv
Den Exilchilenen schlug eine Welle der Solidarität entgegen, wie bei diesem Basar im Mai 1975, den die FDJ organisiert hatte. Verkauft wurde Selbstgebasteltes, das Geld war für die sozialistischen Brüder und Schwestern aus Chile bestimmt. Bundesarchiv: Bild 183-P1512-0022Bild: Bundesarchiv / Rutzke

 

Enttäuschte Einsichten

Aníbal Reyna erhielt ein einjähriges Ausreisevisum, als er in der Bundesrepublik einen Film drehte. Einen Tag vor Ablauf beschließt er, der DDR den Rücken zu kehren, packt  seinen Koffer und flieht über West-Berlin nach Madrid. In Spanien bekam er zwar weniger materielle Hilfe, aber er fühlte sich frei.

Familie Stein blieb sieben Jahre in Ost-Berlin und kehrte dann in Pinochets Chile zurueck. 1989 fanden in ihrem Land wieder freie Wahlen statt – und die Mauer fiel in Berlin. Ihr Leben im untergegangenen deutschen Staat haben die Steins in guter Erinnerung – nur auf die eigenen Funktionäre sind sie nicht gut zu sprechen. In der DDR hatten sie der "Kommunistischen Partei Chiles" den Rücken gekehrt, ihre Bilanz: "Wir haben dann am Ende gesagt, es ist einfach lächerlich, dass wir die Hälfte unserer Energie verbrauchen, indem wir mit unseren Leuten kämpfen müssen, über allen möglichen Blödsinn", sagt Hanns Stein, "und deswegen sind wir dann auch aus der Organisation ausgetreten."

Autorin: Victoria Eglau

Redaktion: Ina Rottscheidt