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In Argentinien gibt es ein Gedächtnis, aber auch noch Folter

Pablo Kummetz13. März 2006

Das Unrecht der Militär-Diktatur in Argentinien ist zumeist ungesühnt geblieben. Und noch heute gibt es dem Nobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel zufolge Folter in dem Land.

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Demonstration in Argentinien von Müttern, deren Kinder während der Militärdiktatur "verschwanden" (Archiv)Bild: dpa

Drei Jahrzehnte nach dem Militärputsch von 1976 in Argentinien fand im Berliner Abgeordnetenhaus am 10. März 2006 eine Tagung statt, um dessen Folgen zu beleuchten. Sie wurde von der "Koalition gegen Straflosigkeit" organisiert. Ziel war es, den Stand des argentinischen und internationalen Kampfes gegen die Straflosigkeit sowie die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu der damaligen Diktatur zu analysieren.

Juristisches Problem

Argentinien, Koalition gegen Straflosigkeit
Adolfo Pérez Esquivel, Friendensnobelpreisträger 1980Bild: Pablo Kummetz/DW

An der Tagung nahm auch der Friedensnobelpreisträger von 1980, Adolfo Pérez Esquivel, teil. Außerdem dabei: Horacio Ravenna, Mitglied des Redaktionsausschusses der UNO-Konvention gegen das "Verschwindenlassen" von Menschen; Arnol Kremer, ehemaliger Führungskader einer Untergrundorganisation und Bruder eines Verschwundenen; der bekannte deutsche Strafrechtler Kai Ambos und zwei hohe Beamte des Auswärtigen Amts. Die Tagung wurde von Herta Däubler-Gmelin, ehemalige Bundesjustizministerin und jetzige Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des deutschen Bundestages eröffnet.

Der Begriff des "Verschwindenlassens" von Menschen wird in Argentinien für viele Opfer der Militärdiktatur verwendet, da wegen mangelnder Leichenfunde rechtlich nicht von Mord oder Tötung gesprochen werden kann.

Ein Rest Diktatur

Pérez Esquivel unterstrich, dass vieles erreicht worden ist, damit die Verantwortlichen der geschätzten 30.000 Verschleppungen und Ermordungen nicht straflos bleiben: "Heute gibt es in Argentinien ein Gedächtnis und die Jugend weiß, was geschehen ist."

Er betonte auch, dass zwischen den Jahren 2000 und 2006 seine Organisation "Frieden und Gerechtigkeit" 4000 Folterfälle registriert habe - nur in der Provinz Buenos Aires. "Es sind Überbleibsel der Diktatur, tiefgehende Strukturen, die noch nicht beseitigt worden sind. Die Regierung Kirchner ist nicht repressiv, aber die Strukturen sind weiterhin repressiv", sagte er.

Pérez Esquivel erinnerte auch daran, dass die gleichen Foltermethoden, die in Argentinien praktiziert worden sind, auch heute in vielen Ländern Anwendung finden: "In Kolumbien, Irak, Afghanistan und Guantanamo und in vielen Ländern, die von Demokratie und Menschenrechten sprechen."

"Vor Gericht oder Auslieferung"

Argentinien Koalition gegen Straflosigkeit
Dr. Horacio RavennaBild: Pablo Kummetz/DW

Horacio Ravenna hob hervor, dass das Urteil der Lords im Falle Pinochet "ein Wendepunkt in der Verfolgung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit" darstelle. Für schwere Verletzungen der Menschenrechte gebe es kein Exterritorialitätsprinzip mehr: "Die Verdächtigen muss man jetzt entweder vor Gericht bringen oder sie ausweisen, damit sie im eigenen Land vor Gericht gestellt werden. Eine diplomatische oder politische Immunität gibt es nicht mehr."

Ravenna warb für die Einführung des Straftatbestands der "permanenten Geiselhaft" im Falle des "Verschwindenlassens". Dieser solle ermöglichen, solche Delikte nachhaltiger zu verfolgen, da sie nie enden.

Schwierigkeiten in Deutschland

Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck von der "Koalition gegen Straflosigkeit" zählte nochmals auf, mit welchen Schwierigkeiten seine Organisation sich konfrontiert sieht, wenn es darum geht, das Schicksal der Deutschen oder Deutschstämmigen, die in Argentinien während der Diktatur "verschwanden", zu klären. Schwierigkeiten habe man nicht mit dem Auswärtigen Amt und auch nicht mit dem Bundesjustizministerium, wohl aber mit der Staatsanwaltschaft Nürnberg, die zuständig sei für diese Fälle.

Von den Schwierigkeiten hob Kaleck drei hervor: Die Verfahren würden eingestellt, "weil das Opfer nicht auffindbar ist", was sehr merkwürdig klinge im Falle von Verschwundenen; "weil die Kinder von geflohenen Juden keine Deutschen waren" (Nazi-Deutschland hatte die Eltern ausgebürgert) und "weil es keine weiteren Ermittlungsansätze gibt", was Kaleck vehement zurückweist.

Argentinischer Geheimagent in der Botschaft?

Einen schweren Stand hatten die Vertreter des Auswärtigen Amts, die sich mit dem Vorwurf konfrontiert sahen, Deutschland habe nicht viel getan, um die deutschen Bürger und Deutschstämmigen in Argentinien während der Diktatur zu verteidigen, sondern, im Gegenteil, gute Beziehungen zu den Militärs unterhalten und gute Geschäfte mit der Diktatur gemacht hätte.

Besonders krass sei, so die "Koalition gegen Straflosigkeit", "die Anwesenheit eines Geheimagenten des argentinischen Militärs in der deutschen Botschaft, der in einem eigenen Büro mit den Verwandten von Verschwundenen sprach, die über ihre Fälle berichten wollten.

Auch der Fall Mercedes Benz sorgt weiterhin für Unmut. Laut der Koalition gegen Straflosigkeit sind Menschen aus der Mercedes-Benz-Fabrik in Argentinien verschwunden, nachdem aus der Firma heraus Informationen über sie an die Militärs ergangen waren und ein Manager habe sogar Kinder von Verschwundenen adoptiert.

Die "Koalition gegen Straflosigkeit" wurde 1998 auf Ersuchen von Pérez Esquivel gegründet und ist ein Zusammenschluss von Menschenrechtsgruppen (u.a. Amnesty International, Argentiniengruppe FDCL), kirchlichen Gruppen (u.a. Franziskaner, Pax Christi, Misereor, Diakonisches Werk und KED) und Juristenorganisationen (Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, Menschenrechtsverein Freiburg) unter der Führung des Nürnberger Menschenrechtszentrum.

Die Rechtsanwälte der Koalition haben in 39 Fällen von Entführung, Folter und Ermordung von deutschen oder deutschstämmigen Bürgern Anzeige gegen insgesamt 89 argentinische Militärs sowie einen deutsch-argentinischen Manager von Mercedes Benz erstattet.