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Im Westen nichts Neues

Mirjam Stöckel11. November 2008

Die belgische Stadt Ypern hat dem giftigen Senfgas seinen Namen gegeben: Ypérite. Hier haben es die Deutschen im Ersten Weltkrieg erstmals eingesetzt. Die Erinnernung ist auch 90 Jahre nach dem Waffenstillstand präsent.

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Ein Soldat hält Wache in einem Schützengraben; Aufnahme zwischen 1914 und 1918.
Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wachhalten und vor neuen Kriegen warnen - das möchte das Weltkriegsmuseum in YpernBild: AP

Der braunhaarige Francis kniet neben zwei lebensgroßen Soldatenfiguren. Einer schwer verletzt am Boden, der andere offensichtlich Sanitäter. Francis hat seine knallrote Windjacke ausgezogen und den Kopf des Verwundeten darauf gebettet. Krieg ist kein Spiel, das hat er auch mit seinen sieben Jahren schon verstanden. "Das heißt kämpfen und Leute töten", sagt er. "Das ist ganz ernst. Weil es den Leuten Schmerzen macht und wie so viele sterben."

Francis ist heute einer der jüngsten Besucher im Weltkriegsmuseum Ypern. Mit seiner Mutter Lucia Larotonda ist er aus England angereist. "Ich möchte, dass er wirklichen Frieden lernt", sagt sie. "Indem er den Horror dieser Zeit versteht – und begreift, dass Frieden immer das war, was man hätte bewahren sollen."

Gedächtnis der Zukunft

Die Figur eines Generals und eines Sanitäters begutachten einen schwerverletzten Kopf eines Soldaten
Ein durchschossener Kopf als Illustrationsobjekt: Bewusst machen, dass Krieg nichts Abstraktes istBild: picture alliance/dpa

Bodenfliesen aus Glas, unter denen die Hände und Füße der Gefallenen aus der Erde ragen, flehentliche Rufe der Soldaten an ihre Gegner, nicht zu schießen – dazu Videos und unzählige militärische Abzeichen, Gewehre, Tagebücher, Feldpost: Das Weltkriegsmuseum in Ypern spricht alle Sinne seiner Besucher an. Bewusst machen, dass Krieg nichts Abstraktes ist, sondern immer Schmerzen, Leid und Angst bedeutet – und dass bis heute Menschen in solchen Kriegen sterben: Der 52-jährige Museumskoordinator Piet Chielens sieht das als seine Verpflichtung. Vor allem gegenüber jungen Menschen, die nur den Frieden kennen.

Ein "Gedächtnis der Zukunft" nennt sich das Museums selbst. Und die gesammelten Erinnerungen hier werden mit dem Tod der letzten Zeitzeuge immer wichtiger. "Wir fragen unsere Besucher, ob sie jemals einem Überlebenden des ersten Weltkriegs begegnet sind", erzählt Piet Chielens. "Vor nur zehn Jahren haben über zwei Drittel Ja gesagt. Mittlerweile sind wir bei unter 40 Prozent". Ihm mache das ziemliche Sorgen. Daher versuche er hier, Erfahrungen zu ermöglichen und sie so lebendig und wichtig zu machen, als habe man eine persönliche Begegnung.

Hornbläser erweisen täglich die letzte Ehre

Gespannte Schlafnetze in einem nachgebauten Schützengraben des 1. Weltkriegs (07.2008/Thierry Monasse)
Exponate im Memorial Museum Passchendaele bei Ypern in Flandern illustrieren das Leben der Soldaten im Schützengraben während des Ersten Weltkriegs.Bild: picture alliance/dpa

Die Erinnerung an die drei blutigen Flandernschlachten zwischen 1914 und 1917 ist im 35.000 Seelen-Städtchen Ypern ein wahrer Wirtschaftszweig geworden. Busweise kommen die Besucher jeden Tag, vor allem aus England, Holland und eben Belgien. Selbst George Bush senior und sein Sohn George W. Bush waren schon hier. Die Touristen fahren die Erinnerungstour ab, die rund um den Ort von einem Kriegsschauplatz zum nächsten führt – und etwa 200 000 kommen pro Jahr ins Museum von Piet Chielens.

"Es ist ein großes Geschäft geworden und deshalb müssen wir sehr aufpassen, daraus keine Touristenfalle zu machen", sagt der Museumsleiter. "Aber ich würde das nicht machen, wenn es nur ums Geschäft ginge." Dass die Erinnerung für die Menschen in Ypern tatsächlich nicht nur Geschäft ist, sondern auch Herzenssache, zeigen sie jeden Abend am Menentor: 54.896 Namen von vermissten Soldaten sind in dem weißen Monument eingraviert – und ihnen erweisen die Hornbläser der Feuerwehr musikalisch die letzte Ehre. Seit 80 Jahren, jeden Abend wieder, jeden Abend um punkt Acht.


Verlorene Generation

Historische Geste: Der französische Staatspräsident Francois Mitterrand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (r) reichen sich am 22.09.1984 über den Gräbern von Verdun die Hand.
Historische Geste: Der französische Staatspräsident Francois Mitterrand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (r) reichen sich am 70 Jahre nach Kriegsbeginn über den Gräbern von Verdun die HandBild: AP

Denn fast alle Familien hier haben Vorfahren im Krieg verloren. Auch Rentnerin Eliane Cousin – bei ihr war es der Onkel. Seit Jahren kommt sie deshalb zum letzten Gruß unter dem Menentor – um wenigstens die Erinnerung am Leben zu halten. Mindestens zwei Mal die Woche. "In manchem Wintern waren wir hier nur zu zweit, so sehr hat es geschneit", erzählt sie. "Aber ich habe dann zu meinem Mann gesagt: Wir müssen einfach kommen – wegen all der jungen Leute. Wenn man sieht, wie alt sie waren! Egal, von welcher Seite – egal, ob ein Deutscher: Das waren doch immer die Kinder von irgendjemandem. Letztlich ist das doch eine verlorene Generation – all diese jungen Leute."