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Theater

Wenn Theater und Leben verschmelzen

Sabine Peschel
21. Mai 2011

Es gibt Zuschauertheater, es gibt Mitmachtheater. Und dann gibt es noch eine Form des Theaters, in dem Werk und Leben ineinander übergehen. Die Gruppe "Signa" nennt sie "Performance-Installation". Ein Erfahrungsbericht.

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Performance-Installation der dänischen Gruppe Signa, Foto: Erich Goldmann
Die HundsprozesseBild: Erich Goldmann

Behördentermine dürften bei den meisten Menschen kurz nach dem Zahnarztbesuch rangieren. So lange wie möglich hinausschieben! Was also hat mich bloß veranlasst, mich an einem freundlichen Freitagabend vor der ehemaligen Kölner Kraftfahrzeug-Meldestelle in die Schlange junger Menschen einzureihen, die Einlass ins "Vorläufige Basalgericht der Stadt Köln" begehren? Für einen, wie ich vorher schon weiß, strapaziösen Gang als Angeklagte durch die Instanzen eines Gerichtsschauspiels? Flaschen und Verpackungsfolien liegen vor dem Eingang im Gebüsch, jede Menge Zigarettenstummel neben den Stufen, im Kopf regen sich unangenehme Erinnerungen an frühere, immer zu kurz eingeplante Wartezeiten, Stunden, die an diesem gleichmacherischen Ort einst bestenfalls zu Sozialstudien einluden.

Genau diese prototypische Schmuddelzone der Stadt hat die dänisch-österreichische Gruppe "Signa" für ihre Adaption von Kafkas Roman "Der Prozess" gewählt. Kein Retro-Charme, nackte 60er-Jahre-Tristesse über viele leerstehende Etagen. Vier davon hat das Ensemble für die "Hundsprozesse" in sorgfältiger Heruntergekommenheit stilisiert. Vom "Tierdepot" über den "Kleinen Gerichtssaal A", Dienstwohnungen und Kopierstelle bis zu Kammern für "Körperliche Befragung" gibt es alles, was ein abstruses Bürokratenhirn am fiktiven "Basalgericht" erwarten könnte. Lautsprecherdurchsagen, Telefonklingeln, dumpf wabernde Klänge und plötzlich aufgeisternde Melodien von Herb Alpert beleben die Räume.

Performance-Installation der dänischen Gruppe Signa, Foto: Erich Goldmann
Bild: Erich Goldmann

Vor Gericht

"Sie sind angeklagt. Bitte verhalten Sie sich ruhig und folgen Sie den Anweisungen der Gerichtsangestellten." Die Durchsage überfällt mich schon, während mir noch ein Gerichtsangestellter meine Akte mit der Nummer 64 hinhält - nicht etwa gibt - und mir dabei streng prüfend in die Augen sieht. Es sind die ersten von vielen kalkulierten Mechanismen, die mich an diesem Abend noch herausfordern werden.

Ich bin jetzt wie alle anderen, die mit mir an diesem Abend in die Eingangshalle getreten sind und die ersten neugierigen Blicke in die dreckigen Flure werfen, "Initialangeklagte". Ein Klebezettel auf meiner Akte gibt mir, zeitlich knapp getaktet, die Stationen meines Verfahrens vor, beginnend im "Zentrum für Seelisches Wohlergehen". Dort, im blutverschmierten Untersuchungsraum, passiert es zum ersten Mal, dass aus einer neugierig-belustigten Mitspielerin, deren Daten auf der Akte verzeichnet sind, wieder meine reale Person wird. Dr. Gorski, Facharzt für "Poeiatrie", bescheinigt mir ein unzulängliches Kurzzeitgedächtnis. Erwischt, leichtes Unbehagen. Poeiatrie sei übrigens, erklärt Dr. Weißkittel, die Heillehre von der Schuld, ein seiner Meinung nach unglücklich gewählter griechisch-lateinischer Mischbegriff.

Performance-Installation der dänischen Gruppe Signa, Foto: Erich Goldmann
Bild: Erich Goldmann

In jedem Falle schuldig

"Schuld" ist der zentrale Spielbegriff des Abends. "Sie sind in jedem Fall schuldig", hält mir Verwaltungsinspektor Plesko bei meinem nächsten Termin vor und macht mir klar: "Sie müssen die Schuld erbringen. Man weist Sie ihnen nicht zu." Ich demonstriere Beflissenheit, während andere "Mitangeklagte" sich aufsässiger zeigen und wissen wollen, warum sie verhaftet seien. Richter Dara Falkenrath weiß es auch nicht. "Auf die Gefahr hin, Sie zu enttäuschen... Wir gehen davon aus, Sie wissen es selbst sowieso." Die verweigerte weibliche Berufsbezeichnung, die sechs Paar Schlittschuhe unterm Sofa, der sächsische Akzent und die gesamte Ästhetik des Raumes scheinen auf meine Erinnerungen an Dutzende von Anmeldeprozeduren auf der DDR-polizeilichen Meldestelle in Dresden-Blasewitz zu zielen.

Wie auch bei den anderen Inszenierungen von Signa ("Die Erscheinungen der Martha Rubin", "Die Hades Fraktur") geht es um Macht, um soziale Interaktionen, aktive oder passive Verhaltensweisen und die Konfrontation mit Grenzen. Dabei verschwimmen immer wieder Spiel und Realität. Was lasse ich mit mir machen? Gebe ich meine tatsächliche Adresse und Telefonnummer an oder schwindle ich, auf die Gefahr hin, anhand meines echten Passes zur fiktiven Lügnerin erklärt zu werden? Bin ich bereit, mich beim Verhör physisch zu entblößen? Und psychisch? Warum steht in meinem - wie übrigens alles auf Schreibmaschine mit schlechtem Farbband und mit vielen Tippfehlern geschriebenen - Vernehmungsprotokoll: "Die Angeklagte hat vile Zeit, was sie dem Alkohol widmet." Hätte ich den Wodka vor der Untersuchung doch ablehnen sollen?

Performance-Installation der dänischen Gruppe Signa, Foto: Erich Goldmann
Bild: Erich Goldmann

Das Werk in dir

Als Teilnehmer weiß man natürlich, dass man sich der Herausforderung jederzeit entziehen kann. Ich kann mich weigern, ich könnte sogar gehen. Die detailliert geübten Improvisationen der rund sechzig Schauspieler schaffen es nur selten, mich wirklich zu bestürzen. Aber jenseits des untergründigen Vergnügens am bedrohlichen Spiel gelingt es hin und wieder doch, und ich frage mich, wie es sein mag, wenn einem etwas angelastet wird, von dem man nichts weiß. Wird Ai Weiwei es schaffen, sich der Schuldsuche zu verweigern?

Am beklemmendsten wird das Spiel nicht, als ich, am Ende des Abends zurück bei Dr. Gorski, mit dem tatsächlich einem Mitangeklagten abgenommenen Blut den Boden bemale. Realer als real fühlt es sich an, als die Inszenierung auf einmal fast zum Stillstand kommt, als im Licht sirrender Leuchtstoffröhren in der Cafeteria sechs Menschen schweigend einzeln an Tischen sitzen, umspült von Mozarts "Kleiner Nachtmusik". Hinter der unergiebigen Theke zwei flüsternde Angestellte in Rüschen-besetzten Nylonschürzen, für den Blick nur der rötlich gescheckte Teppichfußboden. Es ist ein Bild wie von Hopper, das zur Ikone depressiver Atmosphäre gerinnt. An dieser Stelle weiß ich, warum ich gekommen bin. Da erfüllt mich echte Freude und Dankbarkeit, dass ich diesen Raum wieder verlassen kann.

Autorin: Sabine Peschel
Redaktion: Marko Langer