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Der Fall Srebrenica

11. Juli 2010

Das Massaker an Tausenden bosnischen Muslimen in Srebrenica im Jahre 1995 gilt als schlimmster Völkermord in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die historische und juristische Aufarbeitung ist noch nicht beendet.

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Vor einem Marmorquader mit der Aufschrift "Srebrenica Juli 1995" liegt ein Blumenstrauß (Foto: picture-alliance/dpa)
In Gedenken an die OpferBild: picture-alliance/ dpa

Am 11. Juli vor 15 Jahren marschierten serbische Truppen in die Stadt Srebrenica ein, die zuvor von den Vereinten Nationen (UNO) zur Schutzzone erklärt worden war. Die serbischen Soldaten selektierten mehr als 8000 muslimische Männer und Jungen im Alter von zwölf bis 80 Jahren und ermordeten sie. Die UNO-Soldaten, auf deren Schutz die insgesamt 40.000 unbewaffneten muslimischen Zivilisten vertraut hatten, unternahmen nichts, um das Massaker von Srebrenica zu verhindern.

Eine Frau weint am Grab eines Opfers des Massakers von Srebrenica (Foto: AP)
307 Opfer sind hier begrabenBild: AP

In den vergangenen Jahren wurden aus 275 Massengräbern im Drina-Tal, einem serbisch-bosnischen Grenzfluss, die sterblichen Überreste von 8372 Opfern exhumiert. 6557 von ihnen konnten bislang identifiziert werden. Dies ist nicht die endgültige Zahl der ermordeten muslimischen Zivilisten von Srebrenica und der umliegenden Dörfer, viele werden noch vermisst.

Wieso kam es soweit?

Auch 15 Jahre später sei es schwierig, das Geschehen sorgfältig und umfassend aufzuklären, meint Manfred Eisele, Generalmajor des Heeres der Bundeswehr. Er war in der Zeit von 1994 bis 1998 zuständig für die Planung der Friedensoperationen der UNO. Viele Staaten hätten damals aktiv im Hintergrund gewirkt, sagt Eisele. Ihre Diplomaten und Generäle hätten die Entscheidungen ihrer Regierungen im zerfallenden Jugoslawien umgesetzt. Nach dem Krieg hätten sie jedoch keine Stellungnahme für die Berichterstattung der UNO abgeben dürfen. Eine Aussagegenehmigung habe gefehlt, sagt der deutsche General. "Die Konflikte auf dem Balkan haben bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den europäischen Hauptstädten eine ganz wichtige Rolle gespielt. Schon 1914 wurde im Grunde historisch festgelegt, welche Haltung die Staaten später einnehmen würden."

General Eisele bezweifelt, dass die verantwortlich Handelnden im UN-Sicherheitsrat die Kraft und Absicht hatten, den Schutz der 40.000 muslimischen Zivilisten in der Zone Srebrenica tatsächlich zu gewährleisten. Das bestätigen auch die jüngsten Recherchen des niederländischen Journalisten Huub Jaspers, aus denen hervorgeht, dass die großen Nationen im UN-Sicherheitsrat bereits vor dem Massaker Informationen über die serbischen Angriffspläne hatten. "Der Sicherheitsrat ist im Grunde genommen der Hauptverantwortliche für das, was in Srebrenica passiert ist", sagt Huub. Die Regierungen der Staaten des Sicherheitsrates hätten  Informationen von ihren Nachrichtendiensten bekommen, was genau vorbereitet wurde. "Sie haben aber nichts mit diesen Informationen getan. Sie haben dieses Drama nicht verhindert. Das ist eine der ganz großen Fragen, die heute immer noch auf dem Tisch liegt: Warum?"

Der Screenshot vom niederländischen Fernsehen zeigt holländische UN-Soldaten in Potocari vor Hunderten von moslemischen Zivilisten, die aus dem nahegelegenen Srebrenica geflüchtet sind (Archivfoto vom 11.07.1995) (Foto: dpa)
Hunderte muslimische Zivilisten suchen Schutz bei den niederländischen Blauhelm-Soldaten am 11.07.1995Bild: dpa

Keiner will die Verantwortung übernehmen

Für den Genozid in Srebrenica wird heute auch die niederländische Regierung verantwortlich gemacht. Als die Verantwortlichen damals der UNO vorschlugen, die serbischen Truppen aus der Luft anzugreifen, intervenierten die Niederlande. Sie hatten Angst um ihre 450 Soldaten, die für den Schutz der Enklave zuständig waren. Die UNO flog nicht, das Massaker geschah, die Blauhelme der UNO schauten quasi dabei zu.

Dr. Axel Hagedorn, vertritt die 8000 Hinterbliebenen der in Srebrenica massakrierten Bosnier (Foto: Van Diepen/ Van der Kroef)
Axel Hagedorn hat einen Mammutjob zu bewältigen: 8000 MandantenBild: Van Diepen/ Van der Kroef

Axel Hagedorn, Anwalt von rund 8000 Hinterbliebenen der Opfer, bemüht sich derzeit vor dem höchsten Gericht in den Niederlanden sowie am Europäischen Gerichtshof, die Aufhebung der Immunität der UNO zu erwirken. "Die UNO trug eine eindeutige Verantwortung. Sie hätte entgegen dem Willen der Niederländer entscheiden müssen, dass den Völkermord verhindern muss", erklärt Hagedorn. Wenn die UNO vor Gericht erscheinen müsse, dann sei es nicht mehr möglich, dass der niederländische Staat die Schuld der UNO gebe und die UNO die Schuld dem niederländischen Staat, was im Augenblick noch der Fall sei. "Das gebrochene Versprechen, das bleibt das große Trauma, solange die UNO nicht einmal eine Entschuldigung anbietet oder der niederländische Staat. Es ist einfach erschreckend, dass man nicht einmal das über die Lippen bringt."

Die Leidtragenden sind nicht nur die Hinterbliebenen der Opfer

Für die niederländischen Soldaten ist der damalige Einsatz in Srebrenica eine traumatische Erfahrung. Sie seien völlig unzulänglich vorbereitet, bewaffnet und mit falschen Hinweisen über ihre Aufgabe dort hingeschickt worden, sagt der Niederländer Huub Jaspers. Viele dieser Soldaten seien krank geworden, hätten Selbstmord begangen oder säßen nun im Gefängnis, weil sie jemanden umgebracht hätten, erzählt Jaspers. Zur verspäteten Anerkennung und als eine Art "Wiedergutmachung“ verlieh die niederländische Regierung im Jahr 2006 ihren Blauhelmsoldaten, die in Srebrenica eingesetzt waren einen Orden. Eine offizielle Untersuchung ihrer Rolle beim Massaker von Srebrenica gab es dagegen nie.

Schritt für Schritt die Vergangenheit bewältigen

Srebrenica und seine Umgebung sind seit damals "ethnisch gesäubert", wie es die Täter des Massakers wollten. In Srebrenica selbst leben heute nur noch drei bis fünf Prozent Muslime, meistens Frauen, die nach ihren Familienangehörigen suchen. Ein Großteil der Familien ist ins Exil gegangen, nach Kanada, Neuseeland und in die USA. Ratko Mladić, der General der serbischen Truppen, die die Massenermordung durchgeführt haben, versteckte sich und ist bis heute nicht gefasst worden.

Straßenszene in einem Teil der Stadt Srebrenica (Foto: PA/dpa)
Srebrenica - die Bevölkerung setzt sich heute fast ausschließlich aus Serben zusammen und besteht fast zur Hälfte aus serbischen Flüchtlingen, die aus der bosnisch-kroatischen Föderation stammenBild: PA/dpa

Dennoch sieht die Vorsitzende der Deutsch-Bosnisch-Herzegowinischen Parlamentariergruppe des Bundestages, Marieluise Beck, viele positive Schritte, die zu einem Demokratisierungsprozess und zur Versöhnung in Bosnien-Herzegowina beigetragen hätten - auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien sei daran beteiligt gewesen. "Wichtig war die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs, die die Ereignisse in Srebrenica ganz klar und deutlich benennt. Das armenische Volk wartet beispielsweise immer noch auf eine solche Entscheidung über den Genozid, der 1915 stattgefunden hat", erklärt Beck. Auch viele Verurteilungen hätten zur Vergangenheitsbewältigung in Bosnien-Herzegowina beigetragen - außerdem habe Belgrad von den 47 geforderten Personen 44 ausgeliefert.

Die Suche nach den Ermordeten geht indes nur schleppend voran. Die Leichen wurden in Massengräber geworfen. Um die Spuren zu verwischen, wurden sie später mit Bulldozern wieder ausgegraben und in Zweit -oder Drittgräbern verscharrt. Am 11. Juli 2010 werden in Potočari 731 weitere inzwischen identifizierte Opfer bestattet.

Autor: Selma Filipovic
Redaktion: Nicole Scherschun