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"Ich bin Experte im Überleben von Prognosen"

20. August 2005

Im Interview mit DW-TV gibt sich Joschka Fischer, Spitzenkandidat der Grünen, kämpferisch. Für Rot-Grün sei noch nichts verloren. Außerdem zieht er eine persönliche Bilanz seiner Amtszeit als Außenminister.

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DW-TV: Herr Fischer, in diesem Wahlkampf sprechen die Umfragen eine ganz deutliche Sprache: Rot-Grün ist weit abgeschlagen, Sie werden wahrscheinlich nicht mehr in eine neue Bundesregierung zurückkehren. Wie motivieren Sie sich da, als Wahlkämpfer.

Journal Interview

Joschka Fischer: Da brauche ich mich gar nicht zu motivieren, sondern ich bin mir sicher, dass diese Umfragen, und wir haben ja mittlerweile eine ganze Umfragenindustrie, noch nicht die realen Zahlen am Wahlabend widerspiegeln werden, sondern, dass da sehr viel Luft drin ist. Die Deutschen werden in den letzten zwei, drei Wochen ihre Entscheidungen treffen, und es ist noch überhaupt nichts entschieden, im Gegenteil. Dank auch der tätigen Hilfe der Kanzlerkandidatin und ihrer Partei, kann ich nur sagen, die Stimmung dreht sich. Ich habe noch nie so einen Zulauf in den neuen Bundesländern, auch 2002, wo wir gewonnen haben, gehabt, wie jetzt. Ich bin wirklich sehr überrascht. Also was der Wahlkampf bisher gezeigt hat, ist: Das dreht sich, und das werden wir auch noch drehen. Auch 2002 hatte man uns schon die Niederlage prognostiziert und Sie sehen, ich bin Experte im Überleben solcher Prognosen.

Ärgert es Sie eigentlich, dass führende Sozialdemokraten vor gar nicht allzu langer Zeit gesagt haben. "Na ja Rot-Grün, das war nicht wirklich ein Projekt, das war mehr ein Bündnis zu Unzeit?"

Der Kanzler hat es eindeutig klargestellt, und ich kenne ja auch seine Position. Es ist in der Sache einfach nicht richtig, sondern wir haben Reformen, die in den 1990er Jahren hätten angepackt werden müssen, angepackt. Wir haben eine selbstbewusste Friedenspolitik gemacht. Wir haben wichtige Beiträge auch zur europäischen Einigung, unter deutscher Präsidentschaft, vorangebracht. Wir haben gleichzeitig große Probleme im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, ein stärkeres Wachstum zu erreichen, den Generationsvertrag neu zu justieren, auch die Gesundheitsreform, unter dem Gesichtspunkt einer immer älter werdenden Gesellschaft.

All das sind große Herausforderungen und die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung. All das sind große Herausforderungen, aber wir werden uns diesen stellen. Wir haben das in der Vergangenheit getan. Ich sehe da überhaupt nichts Unzeitgemäßes. Unzeitgemäß ist eher Frau Merkel, die ja Vorfahrt für Arbeit sagt, aber in Wirklichkeit, Schwierigkeit mit den Gängen hat und den Rückwärtsgang eingelegt hat. Das erste, was sie sagte, war wieder in die Atomenergie, zurück bei der Förderung erneuerbarer Energieträger. Jetzt wird sie selbst von der Deutschen Bank dafür kritisiert. Das habe ich auch noch nicht erlebt. Also wenn das die Zukunft sein soll, dann liegt sie bereits hinter uns.

Bleiben wir noch einen Moment bei den Umfragen und bei der Situation, wie Sie im Moment dastehen. Um an der Macht zu bleiben, braucht Rot-Grün doch einen zusätzlichen Partner. Wer könnte das sein, die Linkspartei/PDS oder streben sie insgeheim eine Ampelkoalition mit den Liberalen an?

Wir kämpfen hier dauerhaft um die Erneuerung unserer Mehrheit, wie soll das gehen? Ich meine, weder mit den Liberalen und schon gar nicht mit der Linkspartei. Mit Lafontaine saßen Schröder und ich schon gemeinsam in einem Kabinett und als es eng wurde, als er wirklich als Finanzminister dann vor einem Haushaltsentwurf stand, den er nicht mehr ausgleichen konnte, den Haushaltsentwurf 2000, war er weg. Gysi hat als Wirtschaftsminister nach wenigen Monaten in Berlin, als Wirtschaftssenator, das Handtuch geworfen. Was jetzt an Versprechungen gemacht wird, sind haltlose Versprechungen.

Ich erlebe das Gegenteil: Die PDS regiert in Berlin mit, ganz praktisch. Ich meine dort werden Stellen abgebaut in Größenordnungen, das einem die Augen tränen. Freiwillige soziale Leistungen werden gestrichen. Ein Kinderbetreuungsplatz in der Spitze kostet über 300 Euro im Monat. Das hat mit dem, was hier jetzt an Versprechungen gemacht wird, die niemals erfüllt werden können, nichts zu tun. Das ist unseriös. Und hinzukommt, dass Lafontaine ganz offensichtlich weit nach rechts ausholt und das kenne ich von Möllemann. Das kenne ich aber auch in anderen europäischen Ländern. Das finde ich schlimm und da gibt es keine Gemeinsamkeit.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wieso Joschka Fischer immer noch an einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat glaubt und wieso die nächsten Jahre in der Außenpolitik besonders schwierig werden.

Ein Kernanliegen der rot-grünen Außenpolitik war es, Deutschland einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat zu verschaffen. Das scheint nun gescheitert, da Chinesen und die USA gründlich mauern. Hat die deutsche Diplomatie Fehler gemacht?

Nein. Das sehe ich überhaupt nicht. Man hat uns ja vorgeworfen, wir wollten mit dem Kopf durch die Wand. Das wollten wir nicht. Das Thema wurde von uns auch nicht angeschoben, sondern als Kofi Annan nach der Irak-Krise sagte, die UN sind unverzichtbar, aber sie müssen erneuert werden, begann die Reformdebatte. Hätte Deutschland gesagt, wir sind nicht dabei, dann hätte eine der Hauptstützen des UN-Systems erklärt, wir haben kein Interesse an der Reform, obwohl die Vorgängerregierung dieses Interesse angemeldet hat.

Also auch das ging nicht. Und deswegen müssen wir jetzt weiter daran arbeiten. Ich teile Ihre Auffassung überhaupt nicht, dass das zu Ende ist. Es wird mehr Zeit brauchen, als manche gedacht haben, aber von Scheitern zu sprechen, halte ich für falsch. Sondern diese erneuerten Vereinten Nationen halte ich für unverzichtbar, wenn wir Frieden und Stabilität wollen. Und es werden gerade die USA sein, die von wirksamen Vereinten Nationen am Meisten profitieren.

Sie werben leidenschaftlich dafür, dass die Türkei eines Tages Mitglied der Europäischen Union werden kann. Nehmen Sie die Bürger in diesem Wahlkampf dabei mit? Ich meine, diese vielbeschworene Krise Europas ist ja auch eine Krise nicht nur in Deutschland, dass die Menschen sagen, das geht uns alles zu schnell und jede Erweiterung bringt nur neue Konkurrenz auf den Arbeitsmarkt.

Verantwortliche Politik muss auch die Kraft haben, wenn man davon überzeugt ist, den Bürgern, auch wenn sie anderer Meinung sind, versuchen zu erklären, was man für richtig hält. Für die Sicherheit und für den Frieden. Die Türkei liegt heute sehr nahe am Zentrum, wo die Gefahren für unsere Sicherheit existieren. Niemand sagt, dass die Türkei kurzfristig beitreten soll. Niemand sagt, dass die Türkei einen Beitrittsautomatismus für sich beanspruchen kann. Sondern es wird eine echte Entscheidung dann zu treffen sein, wenn nach einem Jahrzehnt, anderthalb oder zwei, eine europafähige Türkei vor uns steht.

Aber den Weg dorthin, daran haben wir jedes Interesse. Das ist unsere Sicherheit und das versuche ich den Menschen zu erklären. Das ist meine außenpolitische Erfahrung. Wir werden nicht mehr bedroht werden durch Panzerarmeen, die östlich von uns aufgestellt sind, sondern es ist der Terrorismus, es ist nuklearer Rüstungswettlauf, es sind Gefahren, die aus dieser Region kommen, und die entscheidende Frage für unsere Sicherheit ist, ob Islam, Menschenrechte, Frauenrechte, Demokratie, unabhängige Justiz, ob Islam und eine starke Zivilgesellschaft und Marktwirtschaft zusammenpassen.

Wenn Sie kurz vor dieser Wahl zurückblicken, auf Ihre sieben Jahre im Amt als deutscher Außenminister, wie klingt dann Ihre persönliche Bilanz?

Es ist eine Zeit, in der von Anfang an eigentlich, die alte Weltordnung zu Ende war, und die Verwerfungen zu spüren waren. Ich war noch nicht im Amt, da zog der Kosovokrieg herauf. Die Herausforderungen des 11. September, als wir dachten, wir haben jetzt den Balkan einigermaßen, sozusagen die Gewalt dort eingedämmt, und eine neue Zukunft gegeben, fand der 11. September statt. Und seitdem ist nichts mehr so, wie es war. Zwar existieren die Dinge fort, aber mit der Irak-Krise, mit anderen Herausforderungen. Europa hat sich selbst geschwächt, durch das französische und niederländische Nein, obwohl wir jetzt die europäische Softpower, also die weiche Macht Europas, bräuchten.

Den Erweiterungsprozess fortzuführen, halte ich für geboten, auch wenn ich um die Sorgen der Menschen weiß. Aber ein "Zwischeneuropa", das zwischen Russland und dem Europa der Integration existiert, ist alles andere als ohne Risiko. Die Bindungswirkung Brüssels zu verstärken, war nun Zweck der Verfassung. Sie sind jetzt in einer schwierigen Situation und ich fürchte jetzt, dass sich dunkle Wolken am Horizont zusammenziehen. Das werden keine einfachen Jahre und deswegen kämpfe ich darum, dass ich in verantwortlicher Politik gemeinsam mit dem Bundeskanzler deutsche Außenpolitik, als selbstbewusste Friedenspolitik, fortsetzen kann.

Bleiben Sie der Politik erhalten, egal wie diese Bundestagswahl ausgeht?

Ja, ich trete für ein Bundestagsmandat an. Das werde ich auf jeden Fall annehmen. Aber ich kämpfe nicht für die Opposition, sondern um unsere Mehrheit. Ich möchte, dass wir dieses Land weitergestalten und regieren.

Christian Trippe
Christian Trippe, Leiter des DW-TV-Hauptstadtstudios

Das Gespräch führte Christian F. Trippe, Leiter des Hauptstadtstudios von DW-TV