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US-Hilfe für Ex-Nazis

17. Dezember 2010

Nach dem 2. Weltkrieg arbeiteten die USA mit Nazis und Kriegsverbrechern zusammen - und zwar nicht nur mit Raketenexperten wie Wernher von Braun. Die Akten von damals werden erst nach und nach aufgearbeitet.

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Professor Richard Breitman seufzt. Der hagere Mann mit dem strubbeligen graumelierten Haar schaut auf den Stapel Papier auf seinem Schreibtisch. Bis zum Abend muss er noch die Arbeiten seiner Studenten an der American University durchgesehen haben. Dabei hat er gerade, zusammen mit seinem Kollegen Norman J.W. Goda, einen 110-Seiten-langen Bericht über die Kriegsverbrechen der Nazis fertig gestellt. Denn Breitman ist einer der Experten, der die alten Dokumente der US-Geheimdienste und des Militärs liest und anschließend die Puzzleteile der Vergangenheit zusammensetzt. Sein Bericht trägt den Namen "Hitlers Schatten – Nazi Kriegsverbrecher, US-Geheimdienste und der Kalte Krieg" und wurde in der letzten Woche veröffentlicht. Seine Arbeit ist seit 1998 möglich. Damals wurde in den USA ein Gesetz erlassen wurden, das die Freigabe der Jahrzehnte-alten Akten regelt.
Richard Breitman (Foto: DW)
Historiker Breitman, Autor von "Hitlers Schatten"Bild: USHMM

So kam ans Licht, wie die USA nach dem 2. Weltkrieg immer wieder ehemalige Nazi-Mitglieder, Kriegsverbrecher und Kollaborateure gedeckt haben. Die erstaunlichste Erkenntnis der Erforschung der geheimen Dokumente aber ist, dass sich das unmoralische Vorgehen noch nicht einmal lohnte. Die Ex-Nazis waren meist keine guten Informanten, mit wenigen Ausnahmen, erklärt Breitman. Sein Kollege Norman Goda hat herausgefunden, dass "zumindest der ukrainische Kollaborateur Mykola Lebed die CIA mit hilfreichen Informationen versorgt" habe. Manchmal haben die unmoralischen Entscheidungen also ihren Zweck erfüllt, so der Professor. "Meistens hatten die Leute, die zu Informanten wurden oder gedeckt wurden, aber eine so zweifelhafte Vergangenheit und ein so verzerrtes Weltbild, dass sie keine sinnvollen Informationen liefern konnten."

Vergangenheit der Spitzel ignoriert

Mykola Lebed war ein ukrainischer Kollaborateur, der für seine Mittäterschaft bei einem Anschlag auf den polnischen Innenminister zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Er konnte aus dem Gefängnis fliehen, als die Nazis 1939 Polen angriffen, und stellte sich 1945 den Alliierten. Die US-amerikanischen Geheimdienste wussten um seine Vergangenheit, verfolgten sie aber nicht weiter, weil Lebed ihnen unter anderem Informationen lieferte über ukrainische Gruppen und sowjetische Aktivitäten in der amerikanischen Zone in Deutschland.

Manchmal begriffen die Amerikaner auch nicht, mit wem sie es zu tun hatten, erklärt Breitman. So durchschauten sie beispielsweise die enge Verflechtung von Sicherheitsdienst und Gestapo nicht und ahnten nicht immer, wie tief ihre Informanten in die Nazi-Ideologie verstrickt waren. Nicht nur die USA bedienten sich der Ex-Nazis, die meist nicht aus Deutschland sondern aus Osteuropa kamen. Auch Briten, Franzosen und Russen sahen oft über die Vergangenheit ihrer Informanten hinweg, von den Deutschen selbst ganz zu schweigen.

Angst vor dem Kommunismus beherrschte das Denken

Professor Breitman hat schon einmal an einem Bericht über die Zusammenarbeit der US-Geheimdienste mit den Nazis mitgearbeitet. Er ist vor fünf Jahren als Buch erschienen. Darin ist nachzulesen, wie der Kalte Krieg dazu führte, dass die Geheimdienste Nazi-Kollaborateure aus Ungarn, Rumänien, der Ukraine oder Russland deckten und teilweise in die USA brachten. Die Überläufer – die zum Teil allerdings ein doppeltes Spiel spielten – sollten Informationen aus osteuropäischen Ländern liefern oder sie dienten als Mittelsmänner, die sich für das FBI in den Immigrantenzirkeln in den USA umhören sollten. Dabei ging es stets darum, Informationen über echte oder vermeintliche Kommunisten zu sammeln.

Joe McCarthy (Foto : AP)
Kommunistenjäger McCarthy: Kommunistenhysterie prägte die USA der 50er-JahreBild: AP

Das alles war zur damaligen Zeit kein Thema unter den jüdischen Flüchtlingen sagt Elan Steinberg, Vizepräsident des Amerikanischen Zusammenschlusses von Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen. Die Überlebenden des Holocaust seien in den 50er- und 60er-Jahren damit beschäftigt gewesen, ihr Leben zu meistern. Seine Eltern hatten den Krieg in Polen überlebt und kamen über Frankreich und Israel in die USA. Dort hatten sie wenig Zeit, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, sagt er: "Sie hatten damit zu kämpfen, in einem neuen Land mit einer neuen Sprache und einer neuen Kultur neu anzufangen."

"Schockierend, aber nicht überraschend"

In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg sei wenig über das Vorgehen der US-Amerikaner bekannt gewesen, sagt Elan Steinberg. Im Rückblick sei das unmoralische Verhalten der Vereinigten Staaten sowie der anderen Nationen "schockierend, wenn auch nicht überraschend". Doch die Emigranten waren nachsichtig mit ihrer neuen Heimat, erklärt Rabbi Andrew Baker, Direktor für internationale jüdische Beziehungen des American Jewish Committees, denn: "Trotz aller Verfehlungen ist dies immer noch – und war mit Sicherheit in den späten 70er-Jahren – das Land mit der weltweit größten jüdischen Bevölkerung." Die USA hätten den zweiten Weltkrieg beendet und seien "Zuflucht und eine neue Heimat für viele Tausend Holocaust-Überlebende" geworden, die nicht in ihre Heimat in Mittel- und Osteuropa zurückkehren konnten oder wollten.

Elan Steinberg (Foto: Lena Fotos)
Elan Steinberg, Vizepräsident des Verbands der Shoa-ÜberlebendenBild: Lena Fotos

Außerdem verweisen sowohl Steinberg als auch Baker auf die Kehrtwende, die die USA in den 70er Jahren vollzogen haben. 1978 wurde das sogenannte Holtzman-Gesetz verabschiedet, das festlegte, enttarnten Nazi-Verbrechern die amerikanische Staatsbürgerschaft wieder abzuerkennen und sie auszuweisen. 1979 wurde eine Sonderabteilung im Justizministerium gegründet, um die entsprechenden Fälle zu untersuchen. Über 1500 Ermittlungen wurden angestellt. Die Sonderabteilung, so erklärt Richard Breitman, war sehr erfolgreich, die Nazi-Vergangenheit der Verdächtigen aufzuspüren. Ungefähr 100 Personen seien auf diese Weise des Landes verwiesen worden. Der Kongress habe entschieden, die Ex-Nazis nicht in den USA anzuklagen, sagt der Historiker Breitman: "Man sah einfach zu viele verfassungsrechtliche Probleme, um strafrechtlich Vorkommnisse zu verfolgen, die außerhalb der USA stattgefunden hatten, bevor das Holtzman-Gesetz verabschiedet wurde." Die Urteile hätten vor den Gerichten keinen Bestand gehabt.

Aufarbeitung dauert an

Wie bedeutsam sind die Diskussion und die Aufarbeitung der Dokumente heute noch, 65 Jahre nach Kriegsende? Es sei wichtig, historische Dokumente nach einer gewissen Zeit zu veröffentlichen, sagt Richard Breitman: "Wenn wir zu einer bestimmten Art von Dokumenten keinen Zugang haben, können wir die Geschichte nicht richtig verstehen und erklären und bekommen ein verzerrtes Geschichtsbild." Das gelte besonders für die Nazi-Zeit, da sie von so großer symbolischer Bedeutung und noch immer Gegenstand von Filmen und Büchern sei. Soweit er wisse, erklärt Breitman, hätten beispielsweise die Deutschen einen 4500-Seiten starken Bericht über Adolf Eichmann, den Architekten des Holocaust, noch immer nicht veröffentlicht. Eichmann lebte nach dem Krieg noch fünf Jahre in Deutschland und konnte dann nach Argentinien flüchten. Es dauert weitere zehn Jahre, bis er dort von israelischen Agenten geschnappt und nach Israel gebracht wurde, wo er 1962 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. "Es gibt eine Menge Leute, die diese Dokumente gerne lesen würden um herauszufinden, ob jemand Eichmann gedeckt hat und wie er entkommen konnte", sagt Breitman und man merkt ihm an, dass auch er gerne diese Papiere studieren würde. Zunächst aber muss er sich wieder den Arbeiten seiner Studenten zuwenden.

Autorin: Christina Bergmann

Redaktion: Sven Töniges