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Die Deutschen waren die Bösen

Sarah Judith Hofmann 4. April 2016

Nach der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg waren die deutsch-niederländischen Beziehungen belastet, heute sind sie gut. Wäre da nicht der Fußball. Der Historiker Friso Wielenga über Oranje, Nazis und Königin Beatrix.

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zwei Füße vor einem Bildschirm, auf dem Fußball läuft (Foto: Rolf Vennenbernd dpa/lnw)
Bild: picture-alliance/dpa

Herr Wielenga, seit 65 Jahren arbeiten die Niederlande und Deutschland in Europa Seite an Seite. Eine bewundernswerte Anzahl an Niederländern – auch Sie – spricht perfekt Deutsch. Dennoch heißt es immer, die deutsch-niederländischen Beziehungen seien so schwierig. Warum eigentlich?

Ich glaube, wenn man das heute sagt, dann ist das ein Echo der Vergangenheit. Es gab tatsächlich schwierige Phasen in der Nachkriegszeit, die Normalisierung war ein langer Prozess. Aber wenn man sich die Geschichte der deutsch-niederländischen Beziehungen seit der Beendigung des Kriegszustands 1951 anschaut, kann man sagen, dass in den letzten 20 Jahren die Beziehungen weitgehend unproblematisch sind.

Die Niederlande waren von Mai 1940 bis April 1945 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Welchen Stellenwert hat dies in der kollektiven Erinnerung der Niederländer?

Der Schock vom Mai 1940 war für die Niederlande sehr groß. Es gab eine lange Tradition der Neutralität in der Außenpolitik. Seit Napoleon hatte es keinen Krieg mehr gegeben, an dem die Niederlande beteiligt gewesen waren. Man hatte sich erhofft, wie im Ersten Weltkrieg außen vor bleiben zu können. Hinzu kam der Schock darüber, dass die Niederlande nach 4-5 Tagen kapitulieren musste. Nach 1945 hat man die Welt dann eingeteilt in die Guten und die Bösen. Die Guten, das waren die Niederländer, die Bösen, das waren die Deutschen. Wir Niederländer, so der Mythos, waren alle im Widerstand gegen die Nazis gewesen.

Prof. Dr. Friso Wielenga (Foto: Zentrum für Niederlande-Studien/Jürgen Peperhowe)
Friso Wielenga ist Direktor des Zentrums für Niederlande Studien der Universität MünsterBild: Zentrum für Niederlande-Studien/Jürgen Peperhowe

Was natürlich nicht stimmte. Immerhin meldeten sich mehrere zehntausend Niederländer während der Besatzungszeit als Freiwillige zur Waffen-SS.

Richtig. Als ich in den 60er Jahren in die Grundschule ging und der Lehrer fragte: Wer von euren Eltern war denn im Widerstand? Da gingen – wir waren 35 in der Klasse – 35 Finger in die Luft. Da hatte man offenbar alle Kinder von Widerstandskämpfern in eine Klasse getan! Denn so umfangreich war der Widerstand in den Niederlanden gar nicht. 75 Prozent der niederländischen Juden wurden umgebracht. Und das konnte – aus Naziperspektive – nur "gelingen", weil die Polizei und die Bevölkerung weitestgehend ganz brav mitgemacht haben.

Anne Frank – versteckt und verraten

So auch im berühmten Fall der Anne Frank, die sich mit ihrer Familie in Amsterdam versteckt hielt – und verraten wurde.

Auch wenn man nicht genau weiß, wer sie verraten hat, könnte man zynisch natürlich sagen: War das nicht das deutsch-jüdische Mädchen, das von Niederländern verraten wurde? Aber das ist lange Zeit verdrängt worden. Erst ab Mitte der 90er Jahre wurde es Gemeingut, dass wir gar nicht so ein Heldenvolk gewesen sind, wie wir es uns im kollektiven Gedächtnis immer so vorgestellt haben. Das lag auch an der Rolle der niederländischen UN-Truppen beim Massaker von Srebrenica. Das Selbstbild wurde in Frage gestellt. Und das führte auch zu einer Entspannung gegenüber denjenigen, die man immer als böse Täter dargestellt hatte.

Schwarz-weiß Porträt von Anne Frank (Foto: nternationales Auschwitz Komitee)
Ihr Tagebuch, das sie im Amsterdamer Versteck schrieb, machte sie weltbekannt. Nachdem Anne Frank wie auch ihre Mutter und ihre Schwester Margot von den Nazis ermordet worden waren, setzte der Vater Otto Frank alles daran, das Tagebuch zu veröffentlichen.Bild: Internationales Auschwitz Komitee

Die Niederlande und Deutschland gehörten zu den Mitgründern der EU. Es gab sehr schnell nach dem Krieg Verbindungen.

Die Niederlande waren sich darüber im Klaren: Ohne einen deutschen Wiederaufbau gibt es keinen niederländischen Aufbau. Um 1950 waren die Wirtschaftsbeziehungen weitestgehend normalisiert. Die Niederlande gehörten auch zu den ersten Befürwortern der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Man wollte die westliche Verteidigungslinie so weit wie möglich im Osten haben. Das implizierte in Zeiten des Kalten Krieges, dass man die Bundesrepublik als Sicherheitspartner brauchte. Der Verstand sagte also: Wir brauchen Deutschland, wir brauchen Normalisierung. Allein, das Gefühl hinkte hinterher.

1966 heiratete die damalige Kronprinzessin Beatrix einen Deutschen, den Diplomaten Claus von Amsberg. Wie wurde das in den Niederlanden aufgenommen?

Es war ja eigentlich Tradition, dass niederländische Könige deutsche Frauen und niederländische Königinnen deutsche Männer hatten. Aber damals wurde es nicht positiv aufgenommen. Da kamen die Kriegserinnerungen stark hoch. Es schien unerträglich, dass am 4. Mai, dem Tag, an dem die Niederländer ihrer Toten aus dem Zweiten Weltkrieg gedenken, ein Deutscher neben der Kronprinzessin stehen würde. Aber man konnte Claus von Amsberg persönlich nichts vorwerfen. Als er sich sehr klar zu der deutschen Vergangenheit äußerte, wurde aus dem hässlichen Deutschen schnell ein geliebter Niederländer.

Was waren die politisch-diplomatischen Schritte, die zu einer Entspannung führten?

Ganz sicher 1969 der Besuch des damaligen Bundespräsident Gustav Heinemann. Es war die moralische Geste, die Heinemann erbrachte: Der höchste Repräsentant der Bundesrepublik entschuldigt sich – durch die Kranzniederlegung in der Gedenkstätte "Hollandse Schouwburg“ [ursprünglich ein Theater, das während der Besatzungszeit zur Deportationsstelle für die Amsterdamer Juden wurde; Anm. der Redaktion]. Was Willy Brandt 1970 mit dem Kniefall im Warschauer Ghetto machte, das hat Heinemann 1969 in den Niederlanden gemacht. Mit Brandt und Heinemann bekam man den Eindruck: In Deutschland hat sich ein fundamentaler Wandel vollzogen.

Gustav Heinemann steht vor dem Mahnmal der Gedenkstätte Hollandse Schouwburg (Foto picture-alliance/dpa)
"Wie Willy Brandt in Warschau": Gustav Heinemann 1969 in der Gedenkstätte Hollandse SchouwburgBild: picture-alliance/dpa

Danach war also alles gut?

Die Annäherung war kein geradliniger Prozess. Es ging auf und ab. Anfang der 90er wurde es beispielsweise noch einmal schwierig, weil die Niederlande verunsichert waren, wie sich das wiedervereinigte Deutschland in Europa positionieren würde. Helmut Kohl verhinderte, dass der niederländische Ministerpräsident Ruud Lubbers EU-Ratspräsident wurde, weil er sich erinnerte, dass dieser eine kritische Haltung bei der Wiedereinigung eingenommen hatte. Gleichzeitig kaufte ein deutsches Unternehmen eine niederländische Flugzeugfabrik. Fokker war so etwas wie VW für Deutschland. Da bekam man Angst: Wird das wiedervereinigte Deutschland zu stark? Als dann auch noch eine große Postkartenaktion aus den Niederlanden als Reaktion auf die ausländerfeindliche Ausschreitungen in Solingen mit dem Titel "Ich bin wütend" im Kanzleramt bei Kohl landete, wurde klar: Man muss etwas tun. Und auf höchster Regierungsebene unternahm man etliche Schritte. Beispielsweise wurde ein Deutschlandinstitut in Amsterdam gegründet und vieles weitere.

Nun gibt es ja noch immer ein Feld, bei dem deutsch-niederländische Ressentiments hochkochen: Das Fußballfeld! Gilt noch immer "Fußball ist Krieg", wie 1974 der niederländische Nationaltrainer bei der WM in Deutschland gesagt hat?

1974 war die Haltung noch: Da hat Deutschland uns den Sieg genommen, den wir eigentlich verdient hätten. Das wurde dann 1988 gerade gerückt mit der Europameisterschaft. Ich war damals in Amsterdam, als die Niederlande Deutschland im Halbfinale geschlagen haben. Auf der Straße sah es tatsächlich so aus, als hätten die Niederländer nun doch den Krieg auf eigene Faust gewonnen. Das war wie eine zweite Befreiung, die da stattfand! 1990 gab es noch diese Spuckaffäre zwischen Rijkaard und Völler, aber es hat sich normalisiert. 2006 bei der WM in Deutschland haben viele Niederländer, nachdem ihr Land ausgeschieden war, gesagt: So, jetzt sind wir für Deutschland. Also ich glaube, heute ist es wirklich nur noch ein Derby zweier Nachbarstaaten.

Frank Rijkaard und Rudi Völler (Foto: Foto: Martina Hellmann/dpa )
Schlachtfeld Fußball: 1990 bespuckte der Niederländer Frank Rijkaard den Deutschen Rudi Völler – und sorgte für einen Eklat. Sechs Jahre später versöhnten sich die beiden SpielerBild: picture-alliance/dpa/M. Hellmann

Aber es gibt immer ein strukturelles Spannungsfeld zwischen einem kleinen Land und einem großen Land. Das kleine Land blickt immer auf das große mit dem Gefühl: Wir sind nicht das 17. Bundesland - und wollen das gerne zeigen. Dennoch würde ich sagen: Die Beziehung ist inzwischen stinknormal, sie ist gut, befreit von den Lasten der Vergangenheit.

Das Gespräch führte Sarah Judith Hofmann.

Friso Wielenga ist Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien der Westfälischen Wilhelms-Universität-Münster. 2000 veröffentlichte er im Agenda Verlag Münster: Vom Feind zum Partner. Die Niederlande und Deutschland seit 1945.