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Telefonseelsorge

Bianca von der Au24. Dezember 2006

Schon 1896 gab es das erste Notruf-Telefon in New York. Ein Baptistenpfarrer wollte damit Menschen vom Selbstmord abhalten. Mittlerweile gibt es in Deutschland 105 Stellen, bei denen verzweifelte Menschen anrufen können.

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Telefonseelsorge, Quelle: dpa
Heiligabend: Für einsame Menschen besonders schwerBild: dpa

Viele Menschen in Deutschland haben das Klingeln eines Telefons schon lange nicht mehr gehört. Bei ihnen bleibt das Telefon stumm. Sie haben niemanden, von dem sie angerufen werden. Und sie können niemanden mehr anrufen. Einsamkeit ist einer der häufigsten Gründe, warum sich Menschen an die Telefonseelsorge wenden, sagt Nick Reimer von der Telefonseelsorge Berlin. Weitere Gründe sind psychischen Krankheiten wie Depressionen. Auch Familienkonflikte und Probleme mit dem Partner bringen verzweifelte Menschen dazu, die kostenlose Notruf-Nummer zu wählen.

Begleitung durch den Alltag

Die Telefonseelsorge sei aber keine Beratungsstelle, bei der schnelle Lösungen gesucht werden, betont Reimer. Vielmehr gehe es darum, einfach zuzuhören oder sich mit dem Menschen auf der anderen Seite der Leitung zu unterhalten. Manche rufen an und sind froh, mal wieder eine menschliche Stimme zu hören. Sie sagen, sie hätten schon seit Tagen mit keinem Menschen mehr gesprochen, erzählt Nick Reimer: "Was wir hier leisten, ist ein Stück Begleitung durch den Tag oder vor allen durch die Nacht. Das Maximum ist eigentlich eine Stunde Gespräch." Den Leuten helfe dies, wieder ein bisschen Licht und eine Perspektive zu sehen. Am Ende müssten beide Seiten auch los lassen können und sagen: So jetzt ist erst mal gut für heute.

Viele Menschen rufen regelmäßig an. Manche sogar jeden Tag, erzählt Nick Reimer, der seit vier Jahren ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge Berlin arbeitet. Der studierte Theologe ist einer von 140 Mitarbeitern, die in dem wohnlich eingerichteten Büro mehrmals im Monat freiwilligen Telefondienst machen. In einer großen Altbauwohnung mit hohen Decken und bunten Polstermöbeln. Wer zum Nachtdienst kommt kann sich vor oder nach der vierstündigen Schicht auf einem der Sofas schlafen legen. Jeweils zwei Ehrenamtliche arbeiten pro Schicht - aus allen Bereichen und Berufsgruppen: von der Hausfrau über den Elektriker bis hin zum Opernsänger oder der Ärztin. Dank guter Logistik und der Bereitschaft der vielen Freiwilligen sind die Telefone 24 Stunden am Tag besetzt - 365 Tage im Jahr.

Einsame Rituale

Dies scheint auch dringend nötig, denn kaum ist der Hörer aufgelegt, klingelt es gleich wieder, beschreibt Reimer den üblichen Arbeitsablauf. Besonders zur Weihnachtszeit stehen die Telefone überhaupt nicht mehr still, sagt der 36-Jährige: "Die Leute rufen dann schon mit einem Weihnachtsanliegen an. Es gibt die Leute, die so ihre Rituale haben, die haben auch gelernt, sich das Weihnachtsfest schön zu machen." Richtig schwer seien die Anrufe der Leute, die letztes Jahr Weihnachten noch zu zweit waren und jetzt plötzlich alleine sind - weil da eine Trennung war oder weil der Lebenspartner gestorben ist. Und das sei dann wirklich schlimm, weil da nicht so ein gelerntes Verhalten da sei, sagt Reimer.

Besonders der heilige Abend sei für viele einsame Menschen schwer. Während in der Vorweihnachtszeit diverse Programme von Kirchen oder Altenheimen angeboten werden, sei an Heiligabend plötzlich nichts mehr, beschreibt Reimer. Daher findet er es wichtig, die Telefone gerade an diesem Abend besetzt zu halten. Auch Reimer hat schon mal am höchsten kirchlichen Feiertag in der Telefonseelsorge Dienst geschoben. Das sei eine interessante Erfahrung gewesen. Entgegen seiner Erwartung seien nicht nur verzweifelte Anrufe gekommen, erinnert sich Reimer. Heiligabend habe er mal einen Dienst gehabt, da hätten wirklich ganz viele angerufen, die hier regelmäßig anrufen und sich einfach bedankten und frohe Weihnachten wünschen wollten.

Existenzangst und Orientierungssuche

Solche Gespräche gäben einem auch die Kraft weiter zu machen, sagt Reimer, der aus Überzeugung Telefonseelsorger ist. Er möchte den Menschen helfen, weil er selber weiß, wie gut es tun, kann in einer schweren Lebenskrise mit jemandem zu sprechen. Die Menschen, die anrufen sind in der Regel im obersten Lebensdrittel - ab 50 aufwärts. Doch rufen auch immer mehr junge Menschen an. Darin sieht Nick Reimer ein Zeichen dafür, dass das Leben härter geworden ist. Arbeitslosigkeit, Existenzangst oder allgemeine Orientierungssuche seien Gründe, die jüngere Menschen zum Hörer greifen lässt. Auch für sie haben Reimer und seine Kollegen ein offenes Ohr. Die oberste Priorität der über 100 kirchlichen Telefonseelsorgen und deren Mitarbeiter ist schließlich die christliche Nächstenliebe. Und Menschen, die in dieser Gesellschaft ihren Platz noch nicht gefunden haben, fühlen sich dort vielleicht für einen kurzen Moment ein bisschen aufgehoben, wünscht sich Reimer.