Unterwegs mit Enoch zu Guttenberg in China
2. November 2009
Die Situation ist grotesk und gespenstisch: In der Wangfujing Kirche, einer der ältesten katholischen Kirchen Pekings aus dem 17. Jahrhundert, proben ein deutscher Chor und ein deutsches Orchester die "Nelson-Messe" von Joseph Haydn. Um die Kirche herum bringt sich eine Hundertschaft Militär in Stellung.
Dabei geht es eigentlich "nur" um einen Kulturaustausch. Die renommierte Chorgemeinschaft Neubeuern, das Weltklasse-Orchester KlangVerwaltung und der Dirigent Enoch zu Guttenberg wurden gemeinsam vom Beijing International Music Festival nach Peking eingeladen. Eine Geste der Völkerfreundschaft.
Beklemmung vor dem Konzert
Chinesische Soldaten bilden einen unüberwindbaren "Schutzring". Die Ironie: Die "Nelson-Messe" ist auch als "Missa in angustiis", als "Messe in Zeiten der Bedrängnis", bekannt. Bedrängt fühlen sich in diesem Fall das Orchester und der Chor. Nicht nur weil der Altarraum zu klein ist für die fast 90 Sänger und Sängerinnen, die Podeste wackelig sind, gebaut für zierliche Chinesen. Nicht für barocke Bayern. Anspannung liegt auf allen Gesichtern. Die sonst so lebhafte Truppe verhält sich merkwürdig still. Bis zur letzten Sekunde ist damit zu rechnen, dass der Strom in der Kirche abgestellt wird. Nur Dirigent Enoch zu Guttenberg bleibt gelassen. "Haydn aufzuführen ist überall auf der Welt ein Akt des Widerstandes", sagt er.
Haydns Messe als Tabubruch
Mit der "Nelson Messe" in der Kirche bricht der Dirigent ein Tabu. In China ist Atheismus staatlich verordnet, die Regierung misstraut aller Religion. Sakrale Musik in Kirchen aufzuführen, ist verboten. Und so grenzt es an ein Wunder, dass das Konzert stattfindet. Warum das möglich ist, bleibt ein Rätsel, zumal die Chinesische Regierung das Konzert im Vorfeld massiv zu verhindern versuchte.
Selbst einige Konzertbesucher wundern sich. Sie alle durften nur auf persönliche Einladung in die Kirche. Zu viel Öffentlichkeit scheut die chinesische Regierung dann doch. Am Ende jubeln die 400 Konzertbesucher – minutenlang klatschen sie mit strahlenden Gesichtern. Stehend. Begeistert.
Familienbande auf Tour
Guttenberg ist mit seiner "musikalischen Großfamilie" unterwegs, insgesamt sind es 170 Menschen, die gemeinsam auf Reisen gehen. Und da wechseln Emotionen und Tempo genauso schnell und unberechenbar wie Guttenberg Haydn dirigiert.
Trotz aller politischer Brisanz kommt die Gaudi nicht zu kurz. Chormitglied Heinz ist wie eine Stimmungsdroge für alle. Mit olivefarbener Kommunistenmütze nebst rotem Plastikstern parodiert er abends im Restaurant Mao. Hornist Johannes aus dem Orchester schleppt sein Alphorn die steile Chinesische Mauer hinauf wie eine junge Gams und bläst es auf dem höchsten Punkt. Alpenländische Tracht trifft auf chinesische Folklore und die chinesischen Zuhörer lauschen andächtig. Und erstaunt.
Dirigent mit Öko-Bewusstsein
Der Chor, das Orchester und die Botschaft der Musik prägen Enoch zu Guttenbergs Leben. Deswegen ist er hier in China. Und dirigiert mit einer Wucht, die ihn Schweiß gebadet macht. Und dann verhallt in der Konzerthalle der Verbotenen Stadt, dem alten Kaiserpalast Pekings, das letzte Amen von Haydns "Schöpfung". Des Oratoriums vom Entstehen der Welt und allen Lebens. Und Guttenberg stehen Tränen in den Augen, was ihm ein wenig peinlich ist. Angesichts des Klimawandels und der Zerstörung der Natur sei die "Schöpfung ein lebendiger Vorwurf unseres Handelns", sagt er.
Musikalischer Botschafter
Guttenberg ist zum ersten Mal in China. Er ist mit der Hoffnung aufgebrochen, dass seine Botschaft bei den Menschen ankommt. Das Publikum reagiert mit minutenlangen stehenden Ovationen. Die Studenten sind - wie Guttenberg selbst - von der Warnung Haydns vor allzu menschlicher Gier und Zerstörungskraft ergriffen. Sie bejubeln Dirigent, Chor und Orchester. Ein über 90-jähriger Violinist, der unter Mao im Steinbruch schuften musste, dankt einem gerührten Dirigenten Tränen überströmt. Die Musik bricht eine Bahn, die nicht einmal Soldaten aufhalten können. Niemals. Nirgends.
Autorin: Bettina Kolb
Redaktion: Sabine Oelze