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Gemischte Bilanz

Said-Musa Samimy 3. Dezember 2008

Seit 2002 ist Hamid Karsai Präsident von Afghanistan. Einige Probleme am Hindukusch sind seitdem schlimmer geworden. Eine Alternative zu Karsai scheint es aber nicht zu geben.

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Verschleierte Frauen laufen an einem Bild des afghanischen Präsidenten Karsai vorbei
Verschleierte Frauen vor einem Bild des afghanischen Präsidenten KarsaiBild: AP

Ratsversammlungen wie die Loja Dschirga sind in der Tradition der Völker am Hindukusch tief verwurzelt. Angeblich sollen schon die Ureinwohner Afghanistans zur Regelung ihres sozialen Lebens beratende Versammlungen abgehalten haben. Selbst despotische Eroberer und ambitionierte Imperatoren haben es für angemessen gehalten, in entscheidenden Fragen der Macht auf die Loja Dschirga zurückzugreifen.

Im Jahr 2002 erinnerte man sich wieder an diese Tradition und vom 11. bis zum 19. Juni eben diesen Jahres wurde die "Außerordentliche Loja Dschirga" einberufen. Sie sollte Afghanistan - gebeutelt vom Bürgerkrieg - in eine stabile, demokratische und friedliche Zukunft führen und einen Präsidenten für die Übergangsregierung wählen. Die Wahl fiel schließlich auf Hamid Karsai.

Wichtige Etappe in Bonn

Eine der wichtigsten Etappen bevor die "Außerordentliche Loja Dschirga" einberufen wurde, fand in Deutschland statt - auf dem Petersberg bei Bonn. Nach 23 Jahren erbitterter Kämpfe in Afghanistan und der Vertreibung der Taliban aus Kabul kamen dort Ende des Jahres 2001 vier Gruppen aus Afghanistan zusammen und unterzeichneten die "Bonner Vereinbarungen".

Für die Initiatoren der ersten so genannten Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg stand fest: Die künftigen Machtstrukturen bedürfen einer Legitimation, die auf die Anforderungen des Vielvölker-Staates am Hindukusch zugeschnitten sein muss. Da bot sich das Modell der Loja Dschirga an. Eine 21-köpfige Sonderkommission erarbeitete in enger Abstimmung mit den Vereinten Nationen Kriterien, anhand derer dann die Loja Dschirga zusammengesetzt werden sollte.

Frauendelegierte unterhalten sich
An der Loja Dschirga nahmen auch weibliche Delegierte teilBild: AP

Keine leichte Aufgabe, denn die Große Ratsversammlung sollte schließlich die komplizierte Bevölkerungszusammensetzung Afghanistans widerspiegeln. Außerdem, erinnert sich Ismail Qasemyar, der damalige Vorsitzende der Sonderkommission, sollten die Frauen nicht übergangen werden – obwohl Afghanistan ein patriarchalisch strukturiertes Land ist: "Es wurden 160 Sitze für Frauen bestimmt. Das ist sicherlich nicht proportional zur Zahl der Frauen in Afghanistan", sagt Qasemyar. "Aber bedingt dadurch, dass Afghanistan immer noch eine traditionelle Gesellschaft ist, können nicht mehr Sitze für Frauen bestimmt werden."

Diskussion über Zukunft des Landes

Gesorgt wurde auch dafür, dass die religiösen Minderheiten der Sikhs und Hindus mit jeweils zwei Delegierten vertreten waren. Insgesamt wurden 70 Prozent der Delegierten gewählt, der Rest ohne Wahl bestimmt. Vom 11. bis zum 19. Juni 2002 trat schließlich die "Außerordentliche Loja Dschirga" zusammen - auf dem Gelände des Polytechnikums in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Rund 1.700 Delegierten aus allen Volksstämmen, politischen Gruppen, traditionellen Institutionen und semi-stattlichen Organen diskutierten neun Tage über die Zukunft des Landes.

Zum Auftakt der Sitzungen hatte Hamid Karsai, damals Präsident der Übergangsregierung, den Delegierten versprochen, dass sich weder die Sonderkommission noch die Übergangsregierung in die Arbeit der Loja Dschirga einmischen würden: "Die Sonderkommission hat gute Arbeit geleistet. Was es den Menschen außerdem erleichtern sollte, ihren Vertreter zu wählen, ist die Tatsache, dass sich die Übergangsregierung nicht einmischt, dass sie sich nie eingemischt hat und in Zukunft nicht einmischen wird in den Arbeitsprozess der Loja Dschirga", erklärte Karsai. "Wenn mich die Große Ratsversammlung als Chef der Regierung wählen würde, wäre das völlig in Ordnung. Wenn sie einen anderen oder eine andere Regierungsform wählen würde - wir würden auch das akzeptieren."

Marathonsitzungen zum Teil turbulent

Die Marathonsitzungen der Delegierten waren zum Teil widersprüchlich und turbulent. Doch trotz aller Kontroversen, und obwohl es zwei Gegenkandidaten gab, wurde Hamid Karsai von der überwältigender Mehrheit der Delegierten zum Präsidenten des „Provisorischen Islamischen Staates“ gewählt - mit 1.052 Stimmen. Abdullah, damaliger Außenminister der Interimsregierung, erinnert sich: „Die Atmosphäre war sehr lebendig. Sicher, es gab auch einige wenige Äußerungen, die provozieren wollten. Aber den meisten ging es um die Einigung und den Erfolg der Loja Dschirga.“

Hamid Karsai bei der Vereidigung
Hamid Karsai wird als Übergangs-präsident vereidigtBild: AP

Im Vielvölker-Staat Afghanistan war trotz aller Differenzen die Wahl eines Übergangspräsidenten nach turbulenten Jahren der bewaffneten Kämpfe eine politische und sicherheitspolitische Meisterleistung: Denn die bewaffneten Kräfte hatten mit Anschlägen auf die Loja Dschirga gedroht. Entscheidend für den Erfolg der Loja Dschirga waren nicht nur die Anstrengungen der Delegierten, sonder insbesondere auch der sanfte Druck der internationalen Gemeinschaft und umfassende Überzeugungsarbeit hinter den Kulissen. Federführend hierbei war hauptsächlich der UN-Beauftragte für Afghanistan, Lakhadar Ebrhimi, ein arabischer UN-Diplomat.

Große Herausforderungen für die Regierung

Im Oktober 2004 schließlich gewann Hamid Karsai die Präsidentschaftswahlen. Ein Jahr später wurde, nach Parlamentswahlen, mit der Bildung der Legislative ein parlamentarisches Kontrollorgan geschaffen. Bis dato hatte Karsai die Geschicke des Landes mehr oder weniger im Alleingang bestimmt. Die Regierung Karsai war von Anfang an mit großen Herausforderungen konfrontiert.

Es galt die Kalaschnikow-Mentalität zu überwinden, rasch eine Infrastruktur aufzubauen und die Not der etwa vier Millionen zurückgekehrten Flüchtlinge zu lindern - Aufgaben, welche die Regierung von Karsai überforderten. Außerdem führt die afghanische Regierung noch heute einen schier aussichtslosen Kampf gegen illegalen Drogenanbau und bewaffnete Terrorgruppen. Ende 2004 noch hatte sich Karsai optimistisch über die Fortschritte bei der Terrorbekämpfung geäußert: "Wir werden sehen, dass der Terrorismus in Afghanistan in seinen allen Erscheinungsformen völlig beendet wird. Und wir werden auch international kooperieren, um den Terrorismus zu beenden."

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Allen Bemühungen zum trotz: Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren, vor allem im Süden des Landes, dramatisch verschlechtert. Ein Grund, warum auch die Bevölkerung zunehmend unzufriedener wird. Der Aufbauprozess ist nach der anfänglichen Euphorie ins Stocken geraten. Die Kluft zwischen Arm und Reich nimmt zu. Anstatt die demokratischen Kräfte zu fördern, stützt sich Präsident Hamid Karsai zunehmend auf erzkonservative Kräfte. Selbst das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft in die Regierung Karsai hat nachgelassen. Doch trotz gemischter Bilanz nach sechs Jahren Hamid Karsai: Eine echte Alternative scheint es noch nicht zu geben.