Halt auf freier Strecke
1. September 2012Alles hat seine Zeit – wie wahr diese alte biblische Weisheit ist, versteht man besonders, wenn es hart auf hart kommt. So wie bei Frank. Vom Arzt erfährt er die Diagnose: "Hirntumor, bösartig, nicht operierbar". Ein paar Monate Lebenszeit bleiben dem 40-Jährigen noch, vielleicht. Der Arzt ergänzt: "Manche Leute, die kriegen ‘ne Herzerkrankung oder irgendwas. Wir wissen nicht die Ursachen, warum jemand so ‘n Tumor bekommt. Das ist Schicksal."
Wie Frank und seine Familie damit umgehen, dass sie mitten im Leben ausgebremst werden, erzählt ein Kinofilm, der letzte Woche auf DVD erschienen ist, Titel: "Halt auf freier Strecke". Der Film beginnt mit der Szene, dass der Arzt die Diagnose stellt. Danach sitzen Frank und seine Frau Simone sprachlos im Arztzimmer. Lange schweigen sie. Alles hat seine Zeit, Schweigen hat seine Zeit.
In den nächsten Tagen und Wochen erlebt die Familie, was noch alles seine Zeit hat, wie es der biblische Weise sagt: Zur Arbeit gehen hat seine Zeit, Ausruhen hat seine Zeit, Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Lachen hat seine Zeit. Weinen hat seine Zeit.
Mit dem Arzt hatten Simone und Frank auch über die beiden Kinder gesprochen: "Sagt man denen das?" – "Ja, das muss man den Kindern auch sagen." – "Was sagt man da? Wie’s ist?" – "Was sie wissen wollen, muss man ihnen mitteilen. Ich glaub’: Das, was man wissen will, verkraftet man auf gewisse Weise auch."
Die Reaktion der Kinder
Also: Reden hat seine Zeit. Erklären. Die Kinder verkraften es unterschiedlich. Die 14-jährige Lilli ist sauer: auf die Krankheit, auf ihren Vater, auf die Veränderungen, sie zieht sich zurück. Der 8-jährige Mika ist zugewandt, hilft, fragt nach weiteren Fakten: "Ist das wahr, dass du stirbst?" – "Ja. Klar, Alter."
Mika schweigt, sein Gesicht ist zerknirscht, er denkt lange über die Antwort seines Vaters Frank nach. Und Mika denkt auch praktisch: "Krieg‘ ich dann dein iPhone?"
Frank schweigt, greift zu seinem iPhone, drückt auf Filmaufnahme, streichelt seinem Sohn Grimassen ins Gesicht, beide lächeln.
Wirkung und Herstellung des Films
Der Film ist beeindruckend, er spielt im lichtschwachen November, die bunten Blätter sind gefallen, Frank ist im Garten und harkt sie zusammen. Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit.
Es ist ein Spielfilm, er wirkt aber wie ein Dokumentarfilm, so "normal" spielen der Arzt, der die Diagnose stellt, die Krebsärztin, die ins Haus kommt, die Pflegerin vom Medizinischen Dienst, die Frank gegen Ende versorgt. Das wirkt deswegen so echt, erläutert der Regisseur Andreas Dresen, weil wir diese Rollen mit Leuten besetzt haben, die das auch im echten Leben machen, die das tagtäglich machen. Zudem, sagt er, war der Dreh insgesamt besonders: "… in einer sehr intimen Atmosphäre. Wir hatten kein klassisches Drehbuch, sondern das ist alles improvisiert. Das heißt, man hat so ‘ne Art Szenenfahrplan und dann geht man mit ‘ner ganz kleinen Truppe ans Set, wir sind wirklich nur zu dritt und die Schauspieler. Und dann versuchen wir gemeinsam am Drehort diese Szenen zu entwickeln und ‘n Punkt von Wahrheit für uns zu finden."
Gefühle des Zuschauers
Der Film kommt einem nahe. Als Zuschauerin bin ich fast wie eine Freundin der Familie dabei und erlebe mit, was passiert. Und ich denke: Jeder sollte diesen Film anschauen, denn man erfährt, ohne Voyeurin zu sein, wie ein Mensch langsam stirbt, Abschied nimmt, welches Auf und Ab die Seele durchmacht, was körperlich passiert, wie einen alles verlässt: das Denken, das Gehen, der Anstand. Und ich frage mich unweigerlich: Wie möchte ich sterben? Und wo? Zuhause? Im Krankenhaus? nehmen? Und auch: Wie möchte ich leben?
Alles hat seine Zeit, Lieben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit. Der biblische Weise kommt am Ende seiner Gedanken zum Vertrauen: Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in das Herz der Menschen gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.
Zur Autorin:
Antje Borchers ist Diplom-Medienwirtin und Journalistin. Sie betreibt eine Agentur für Kommunikation, Medienarbeit und Pressearbeit.
Vorher hat sie viele Jahre als Chefredakteurin einer christlichen Jugendzeitschrift gearbeitet. Seitdem macht sie auch Radio, zum Beispiel Morgenandachten. Vorher war sie in Idstein/Taunus und hat dort als Gemeindediakonin die Jugendarbeit der evangelischen Kirchengemeinde geleitet.
Sie wohnt mit ihrem Mann in Lemgo/Lippe.