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Gute Manieren und Etikette

Stephan Hille24. Februar 2004

Frauen gibt man in Russland zur Begrüßung nicht die Hand, das ist einfach so. Es gibt halt kulturelle Unterschiede in Sachen Manieren und Höflichkeit.

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In siebzig Jahren Kommunismus sind in Russland die Geschlechter formal gleichgestellt worden - was übrigens mehr darauf hinaus lief, dass auch die Frauen schwerste körperliche Arbeit verrichteten, als dass sie in verantwortliche Positionen aufrücken konnten. Insofern kein großer Unterschied zum Westen, wo Frau und Mann heute auf dem Papier zwar gleichgestellt sind, aber in der Praxis der Mann noch immer mehr Lohn für einen hochqualifizierten Manager-Job erhält, als die Frau mit gleichen Fähigkeiten, die sich dazu noch ungleich mehr anstrengen muss, um überhaupt in eine leitende Position zu gelangen.

Nicht Gleichstellung, sondern Unterschiede

Doch nicht um Gleichstellung zwischen Mann und Frau, soll es hier gehen, sondern um kulturelle Unterschiede in Sachen Manieren und Höflichkeit. Also, der Frau in Russland die Hand zu geben, gilt einfach als unschick. Jede Frau aus dem Westen, die zum Gruß ihres russischen Gegenübers die Hand ausreicht, würde diesen in mittelschwere Verlegenheit bringen. Erlaubt und geradezu erwartet hingegen wird, dass man der Frau die Hand reicht, um ihr beispielsweise aus der Straßenbahn oder zum Überqueren eines meterhohen Schneematschberges zu helfen. Tugenden, die beim Mann im Westen infolge der Emanzipationswelle der achtziger Jahre und der Befürchtung, auf Ablehnung zu stoßen, offenbar endgültig verloren gegangen sind.

Erhalten hat sich in Russland der Handkuss für die Dame, allerdings eher in der schmatzigen Variante, die sich von der früher in Westeuropa praktizierten Form, wo sich Mund und Hand kaum berühren durften, merklich unterscheidet. Doch damit ist das Thema "Manieren" beinahe schon erschöpfend behandelt. Denn: Gutes Benehmen ist im heutigen Russland nur wenig verbreitet.

Doch auch das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Moral und Anstand mit der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 unter die Räder kamen. Dass die Sowjetmacht während ihres siebzigjährigen Bestehens - von den schlimmsten Repressalien abgesehen - die Bürger bestenfalls wie Vieh behandelt hat, führte dazu, dass die Russen sich gegenseitig, jedenfalls unter Fremden, keinen Deut` besser behandelten.

Auf den Zusammenbruch folgte die wirtschaftliche Krise und der tägliche Überlebenskampf, der verständlicherweise für Höflichkeit und Freundlichkeit ebenfalls keinen Freiraum ließ.

Wachstum anheizen

Doch nun, wo der soziale Niedergang gestoppt ist und die Wirtschaft und mit ihnen die realen Einkommen kräftig wachsen, lässt sich eine hoffnungsvolle Trendwende erkennen. Zwar nicht unbedingt im Alltag und auf der Straße, wo immer noch das sozialdarwinistische Prinzip des Recht des Stärkeren vor allem die Beziehungen zwischen Autofahrern und Fußgängern regelt, sondern in der Geschäftswelt.

Bestimmten noch bei den ersten Joint-Ventures die Überlegung "Wie-kommt-dein-Geld-so-schnell-wie-möglich-in-meine-Tasche" die Handlungsmaxime der Russen gegenüber ihren westlichen Partnern, hat sich heute der Business-Alltag weitgehend zivilisiert. Heute muss nicht mehr jedes Geschäft mit komatöser Wodkaspülung abgeschlossen werden. Reiner Wein statt Wodka und ein guter Ton zählen mehr und mehr zum guten Ton.

Und um die Bildungslücke in anständigen Manieren, Tischetikette und gekonntem Small-Talk zu schließen, schießen zurzeit "Business Schools" wie Pilze aus dem Boden, die den russischen Managern vom Tagesseminar bis zum Monatskurs Anstand auf dem Business-Parkett beibringen. Fehlt nur noch, solche Kurse auch für den ganz normalen Alltag anzubieten.