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Gradmesser Türkei

Alexander Kudascheff7. September 2004

Es herrscht politischer Dämmerzustand in Brüssel: Die alte "Prodi-Kommission" darf nicht mehr - die neue unter Barroso noch nicht. Und das in historisch bedeutsamen Zeiten ...

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Alexander Kudascheff
Die alte Kommission unter Romano Prodi wird noch eine Entscheidung treffen. Und man kann es nicht übertrieben genug feststellen: Es wird eine Entscheidung von welthistorischer Bedeutung sein, eine Entscheidung, die das Gesicht Europas verändern wird, eine Entscheidung, die die Zukunft der europäischen Union dramatisch verändern wird. So oder so.

Es geht darum, dass die alte Kommission feststellen wird, ob die Türkei die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllt, so dass die EU Verhandlungen mit dem Land am Bosporus aufnehmen kann. Und wenn nicht alle Zeichen trügen: Die Kommission wird wohl eher Ja sagen. Günter Verheugen, der Noch-Erweiterungskommissar, der auch in der neuen Kommission arbeiten wird, als Vizepräsident und zuständig für die Industriepolitik, besucht in dieser Woche die Türkei, um sich die Lage vor Ort selbst anzuschauen. Und dann wird er - so hat er versprochen - am 6. Oktober einen fairen und vorurteilsfreien Bericht vorlegen.

Das ist, man muss es so sagen, das Mindeste. Aber wird es ein Bericht sein, der sich politischen Vorgaben beugt? Aus Berlin, London, Paris beispielsweise (und vielleicht sogar aus Washington)? Dort will man die Türkei in die EU holen - wenn auch erst in zehn bis 15 Jahren. Und Diskussionen werden dort eher unwirsch abgetan - als seien sie lästig. Unbestritten: Die Türkei hat unter dem islasmischen Premier Erdogan wahrlich Revolutionäres umgesetzt. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die Rolle der Militärs beschnitten, die Folter in den Gefängnissen unter Strafe gestellt, den Kurden endlich die so lang verweigerten Minderheitenrechte zugebilligt. Schaut man nur aufs Papier - dann hat Ankara seine Teil getan, damit Verhandlungen aufgenommen werden können.

Aber wie sieht es in der Wirklichkeit aus? Wie in Ostanatolien? Gibt es dort nicht immer noch nicht-geahndete Fememorde wegen der verletzten Familienehre? Werden Polizisten endlich angeklagt und verurteilt, wenn sie die Gesetz missachten? Wird wirklich nicht mehr gefoltert? Ist die Armee nur im Hintergrund, weil sie sich auf diese Weise taktisch verhalten will? Und geht es den Kurden wirklich besser? Dürfen sie endlich ihre Sprache lernen?

All das sind Fragen, die Verheugen und die alte Prodikommission beantworten müssen. Und sie sind - das weiß man hier im politischen Brüssel - durchaus uneins, um nicht zu sagen: zerstritten. Jetzt rächt sich eben, dass man zwar die Kopenhagener Kriterien als Voraussetzung aufstellte, aber nie eine Diskussion darüber führte, warum man die Türkei überhaupt in der EU haben will. Gehört sie traditonell zu Europa? Will man sie aus Sicherheitsgründen? Soll sie Bote einer harmonischen Verbindung von Demokratie und Islam sein? Braucht man sie aus strategischen Überlegungen? Will man eine neue Rolle im Nahen und Mittleren Osten, im islamischen Krisenbogen spielen? Weiß man, was es für den schon jetzt schwierigen Zusammenhalt der EU der 25, bald 27 bedeutet, wenn ein Land von der Größe der Türkei in den Club stößt? Wird aus der EU dann endgültig eine bessere OSZE als Freihandelszone?

All das hat man auf dem Gipfel von Helsinki 1999 nicht diskutiert. Wohl weil man glaubte, es reicht, hohe Hürden aufzustellen, an denen die Türkei bei ihrem Weg nach Europa scheitern würde. Nun aber überspringt Ankara ehrgeizig die Hürden - und Brüssel muss entscheiden. Es werden aufregende Wochen mit einer historisch brisanten Entscheidung.