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Gongadse-Prozess: "Die Drahtzieher sitzen nicht auf der Anklagebank"

5. Januar 2006

Vor Beginn des Prozesses gegen die mutmaßlichen Mörder des ukrainischen Journalisten Georgij Gongadse kritisiert Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Berichterstatterin des Europarates, die ukrainischen Ermittlungen.

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Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerBild: AP

DW-RADIO/Ukrainisch: Am 9. Januar soll in Kiew der Prozess im Gongadse-Fall beginnen. Was erwarten Sie als Beauftragte des Europarates von diesem Prozess?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich hoffe, dass dieser Prozess vielleicht ein Stück weit zu mehr Aufklärung führen wird. Aber ich erwarte leider, dass das doch ein Prozess wird, in dem man alles versuchen wird, den Fall Gongadse abzuschließen, was aber nicht möglich ist.

Was bewegt Sie dazu, eine solch pessimistische Prognose zu stellen?

Es sitzen auf der Anklagebank die der Tat selbst Verdächtigen. Aber der Fall Gongadse ist ja viel mehr als die Tat von diesen drei ehemaligen Polizisten. Er hat politische Hintergründe, er hat Auftraggeber, er hat Drahtzieher – und die sitzen alle hier nicht auf der Anklagebank, und deshalb komme ich zu dieser eher pessimistischen Erwartungshaltung.

Wie zufrieden sind Sie mit dem bisherigen Verlauf der Ermittlungen?

Der Europarat kann hier letztendlich nicht zufrieden sein, weil aus unserer Sicht noch viele wichtige Punkte nicht aufgeklärt sind. Bei dem früheren Generalstaatsanwalt Piskun hatten wird nicht den Eindruck, dass alles getan wird, um aufzuklären. Und deshalb hat der Europarat klar gesagt, für ihn ist der Fall und damit auch unser Mandat erst dann beendet, wenn wirklich auch die Auftraggeber zur Verantwortung gezogen werden, wenn klar ist, wer wirklich die Verantwortung für diesen Mord trägt.

Wenn die Auftraggeber für den Mord aber weiter unentdeckt bleiben, ist es da überhaupt sinnvoll, einen solchen Prozess zu eröffnen?

Es ist nicht sinnvoll. Denn Mittäter, Anstifter und diejenigen, die Beihilfe leisteten – alle gehören zusammen auf die Anklagebank, vor allem eben auch die eigentlich Verantwortlichen, die den Auftrag erteilt haben, aber sich die Hände nicht schmutzig gemacht haben. Das ist e i n Komplex und e i n Fall. Und deshalb ist es juristisch nicht sinnvoll, jetzt dieses Verfahren vorzuziehen. Und das zeigt eben, dass anscheinend damit versucht wird, den Fall Gongadse endgültig abzuschließen.

Was kann man tun, dass dieser Prozess eben nicht dazu genutzt wird, um einen Schlussstrich unter den Fall Gongadse zu ziehen?

Ich denke, es ist ganz wichtig, dass dieser Prozess ein große Öffentlichkeit hat, dass in diesem Prozess wirklich auch versucht wird, alle möglichen Zeugen zu hören, die vielleicht mehr sagen könnten, dass in diesem Prozess auch immer wieder deutlich wird, in welchem politischen Umfeld dieser Prozess stattfindet und was danach eben auch alle passiert ist, nachdem es zum Mord an Gongadse gekommen ist. Es ist ganz wichtig, dass in diesem Prozesse auch all die schwierigen Fragen in der Beweislage deutlich angesprochen werden, die Verwendung der Tonbänder von Melnitschenko, die medizinischen Untersuchungen, die viele Fragen aufwerfen, so dass dieser Prozess dann vielleicht ein Stück weit mehr Aufklärung bringen könnte und deutlich macht: der Fall Gongadse ist nicht abgeschlossen.

Auf der Flucht ist immer noch General Pukatsch, einer der vier Verdächtigen, dem man eine Schlüsselrolle im Fall Gongadse zuschreibt. Ihr Eindruck: Kann man ihn oder will man ihn einfach nicht fassen?

Die Tatsache, dass General Pukatsch immer noch auf der Flucht ist, spielt bestimmt eine nicht unwichtige Rolle bei der weiteren Aufklärung. Deshalb ist er auf der Flucht. Deshalb haben manche vielleicht auch kein Interesse, dass er festgenommen wird und dann auch aussagt. Von daher ist das ein wichtiger Aspekt, der eben noch viele Fragen offen lässt im Fall Gongadse. Der Europarat wird sich jetzt in diesem Jahr diesen Fall wieder zu einem seiner wichtigen Anliegen machen.

Was konkret planen der Europarat und Sie als Beauftragte im Fall Gongadse?

Ich werde als Berichterstatterin jetzt genau überlegen, wann ich wieder nach Kiew fahren werde, vielleicht auch mal als Beobachterin an einer Verhandlung teilnehmen kann. Ich werde aber in jedem Fall auch Gespräche führen und damit deutlich machen, welches große Interesse der Europarat diesem Fall beimisst.

Das Interview führte Volodymyr Medyany
DW-RADIO/Ukrainisch, 5.1.2006, Fokus Ost-Südost