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Giftige Erblast

Volker Mrasek5. Mai 2003

Dass Kriege nicht einfach vorbei sind, sondern langfristig nachwirken, ist eine Binsenweisheit. Besonders drastisches Beispiel: Der Vietnam-Krieg und die Hinterlassenschaften amerikanischer Giftgasangriffe.

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"Agent Orange" hat SpätfolgenBild: Hartert

Der Vietnam-Krieg ist lange vorbei, die Vietnamesen - eigentlich kommunistisch - haben längst ihren Frieden mit dem einstigen Feind Amerika gefunden und wollen mit ihm ins Geschäft kommen. Verrostetes Kriegsmaterial der US-Militärs gilt noch immer als beliebtes Souvenir. Weit weniger harmlos sind andere Erblasten des Krieges - zum Beispiel die hochgiftigen Chemikalien, die die US-Luftwaffe gegen die nordvietnamesische Armee, den Vietcong, einsetzte.

"Agent Orange" ist das, was allen, die sich damit befassen, sofort einfällt. Über Jahre hinweg versprühte die US-Luftwaffe systematisch dieses Pflanzenvernichtungsmittel. Das sollte zwei Zwecken dienen: Einmal der Entlaubung des Dschungels, zum anderen der Zerstörung der Getreidefelder. Der Name des Mittels ist zu trauriger Berühmtheit gelangt. Die Herbizid-Mischung "Agent Orange" enthielt neben seinem eigentlichen Wirkstoff auch Spuren von hochgiftigen Dioxinen.

"Agent Orange" hat einen Vorläufer

Wald in Vietnam Forst Aufforstung Naturschutz
Bild: AP

Mehr als 45 Millionen Liter "Agent Orange" ließ das US-Militär schätzungsweise über Zielgebieten in Vietnam niederregnen. Das war in den Jahren 1965 bis 1970. Aber gab es chemische Kriegsführung durch das US-Militär auch schon vorher? Die offizielle Version heißt: Nein, gab es nicht. Doch die amerikanische Physiko-Chemikerin Jeanne Stellman von der Columbia Universität in New York rückt das Bild gründlich zurecht. "Vor 'Agent Orange' wurde bereits 'Agent Purple' eingesetzt. Es enthielt die gleichen Wirkstoffe, nur in anderer Formulierung. Als die chemische Industrie begriff, wie gigantisch die Sache mit den Herbiziden wird, schaltete sie auf 'Agent Orange' um. Es ließ sich billiger herstellen", erklärt sie. "Das vorher benutzte 'Agent Purple' aber war wesentlich höher mit Dioxin belastet als 'Agent Orange' - vielleicht hundertmal so stark."

Geheime Einsatzprotokolle jetzt öffentlich

Stellman befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema "Vietnam und Dioxin". Viele militärische Unterlagen sind inzwischen in öffentliche Archive gewandert, auf Druck des US-Kongresses. In dem Wust von Material wurde die Chemikerin vor zwei Jahren fündig. Im Staatsarchiv stieß sie auf bisher übersehene Einsatzprotokolle der US-Luftwaffe. Sie dokumentieren rund 200 Entlaubungsmissionen aus den ersten Kriegsjahren, in der Zeit vor "Agent Orange". "Es sind Aufzeichnungen, von denen wir nicht wussten, dass sie überhaupt existieren - trotz all unserer Recherchen in den Jahren davor." Zu der Zeit war das Material auch noch geheim. "Ich bin, glaube ich, wirklich der erste Mensch, der sie sich angeschaut hat", berichtet Stellman.

Langzeitfolgen noch nicht erforscht

Zwei Jahre dauerte es, die Protokolle auszuwerten und die Ergebnisse zusammenzufassen, bevor sie im Wissenschaftsmagazin "Nature" veröffentlicht wurden. Demnach versprühte das US-Militär schon in den Jahren bis 1965 große Mengen Entlaubungsmittel - fast zwei Millionen Liter von dem besonders stark Dioxin-verseuchten "Agent Purple", wie Stellman und ihre Ko-Autoren schreiben. Nach den Einsatzprotokollen lagen die Zielkorridore vor allem nördlich der damaligen südvietnamesischen Hauptstadt Saigon.

Agent Orange-Spätfolgen
Das Giftgas wirkt bis in die kommenden Generationen nachBild: AP

"Es gibt eine interessante Untersuchung von Forschern aus British Columbia", erklärt Stellman. "Sie konnten noch immer hohe Dioxin-Konzentrationen im Boden nachweisen - und zwar genau dort, wo 'Agent Purple' versprüht worden ist. Dagegen waren Nachbarflächen, die 'Agent Orange' abbekommen hatten, nicht mehr belastet." Gut möglich also, dass "Agent Purple" eine größere Erblast des Vietnam-Krieges ist als "Agent Orange". Stellman jedenfalls sagt, sie wisse nun, worauf sie sich in Zukunft konzentrieren müsse: Auf die Herbizid- und Dioxin-Abwurfgebiete der ersten Kriegsjahre. "Bis heute gibt es keine einzige Studie zu der Frage: Was sind die Langzeiteffekte für Umwelt und Gesundheit? Es ist schon beschämend: 32 Jahre nach dem Krieg kann diese Frage noch immer niemand beantworten."