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"Gewinner des Vertrags – das EU-Parlament"

3. November 2009

Demokratischer soll die Europäische Union durch den Vertrag von Lissabon werden. Was das aber im Einzelnen bedeutet, hat DW-WORLD.DE den SPD-Europaabgeordneten Jo Leinen gefragt.

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SPD-Europaabgeordneten Jo Leinen im EU-Parlament (Foto: dpa)
Jo Leinen im EU ParlamentBild: picture-alliance / dpa

DW-WORLD.DE: Was ändert sich für das Europäische Parlament konkret?

Jo Leinen: Das Europäische Parlament ist einer der Gewinner dieses neuen Reformvertrages. Wir werden auf gleicher Augenhöhe sein, mit den Regierungen und dem Ministerrat, dem bisher wirklich mächtigen Gremium in der Europäischen Union. Das heißt Gesetze aus Brüssel sind in der Regel nur noch machbar, wenn das Parlament “Ja“ sagt, wenn die Bürgerkammer dies akzeptiert. Und ich glaube, es ist für die 500 Millionen Menschen in der EU auch ganz schön wichtig, dass die Institution, die sie direkt wählen können, nämlich das Europaparlament, überall eine entscheidende Rolle spielt, beim Verbraucherschutz, Umweltschutz und zunehmend auch bei den Sozialschutzgesetzen.

Wie wird sich das Verhältnis zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten entwickeln? Der Lissabon-Vertrag regelt ja, dass die nationalen Parlamente mehr zu sagen haben als bisher.

Die Parlamente insgesamt bekommen ein größeres Mitspracherecht. Die nationalen Parlamente bekommen zum ersten Mal in der 50-jährigen Geschichte der europäischen Einigung einen Fuß in die Tür durch das so genannte Frühwarnsystem. Wenn eine Gesetzesinitiative von der Kommission verteilt wird, dann haben die Parlamente acht Wochen, um ein Veto einzulegen. Zu guter Letzt können sie sogar vor dem Europäischen Gerichtshof gegen ein europäisches Gesetz klagen, und das siebenundzwanzig Mal, in jedem Mitgliedsstaat. Also, die nationalen Parlamente werden richtige Akteure in der Europapolitik.

Der Lissabon-Vertrag verankert noch einmal das Subsidiaritätsprinzip, also die unterste Ebene soll zuständig sein, bevor das immer weiter nach Europa hochgeht. Wird das auch dazu führen, dass manches wieder national geregelt wird und nicht europäisch?

Dieser Vertrag hat ja die Aufgabenverteilung schärfer geregelt als jeder andere Europa-Vertrag davor. Wir wissen, was ausschließliche Kompetenz der EU ist, zum Beispiel die Zollpolitik, die Handelspolitik, die Währungspolitik. Der große Block ist geteilte Zuständigkeit zwischen nationaler und europäischer Ebene und dann gibt es noch eine ganze Reihe von Politikfeldern, wo nur die einzelnen Länder handeln können und Europa nur das ein oder andere Förderprogramm oder Pilotprogramm organisieren kann, wo aber keine Gesetzgebung stattfindet. Also, insofern ist das Subsidiaritätsprinzip zum ersten Mal in diesem Kompetenz-Verteilungskatalog aufgelistet. Trotzdem wird es Streit geben: Bringt das jetzt einen europäischen Mehrwert oder sollte jeder für sich ein Problem lösen? Das wird auch in Zukunft so sein und letztendlich muss dann der Europäische Gerichtshof entscheiden, was richtig und was falsch ist.

Der Lissabon-Vertrag wird auch einen Grundrechtekatalog enthalten. Kann ich dann als einfacher Bürger meine Grundrechte vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einklagen oder kann ich beim Parlament in Straßburg vorstellig werden?

Nun, der Klageweg wird über die nationalen Gerichte gehen. Ich kann nicht als Bürger direkt zum EuGH nach Luxemburg gehen, es sei denn eine Entscheidung der EU betrifft einen Bürger unmittelbar. Das ist aber sehr selten der Fall, weil wir Gesetze machen, die ja noch national umgesetzt werden müssen. Nur im Kartellrecht und im Wettbewerbsrecht gibt es allerdings mehr für Firmen direkte Betroffenheit durch EU-Entscheidungen und damit auch Klagerechte vor dem EuGH. Aber der Grundrechtekatalog, der ja der Katalog von Freiheiten und Rechten ist, den es weltweit gibt, ist Maßstab für die Auslegung europäischer Hoheitsgewalt. Die nationalen Gerichte werden sich diesen Grundrechtekatalog holen und beurteilen, ob ein Bürger in seinen Grundrechten verletzt ist und das dem EuGH vorlegen.

Der Ratifizierungsprozess für den Vertrag von Lissabon war lang und schwierig. Wie lange wird dieser Vertrag jetzt halten, wann ist es Zeit für die nächste Reform oder ist Lissabon das Ende der Fahnenstange?

Nun, dieser Vertrag hat sich ja einmal Verfassungsvertrag genannt, weil wir mit der Charta der Grundrechte alles haben, was Bürgerrechte und Grundrechte betrifft. Wir haben mit der Kompetenzverteilung und der Benennung der Institutionen, die die Arbeit machen sollen, eine Architektur gefunden, die viele Jahre und Jahrzehnte halten wird. Ich glaube nicht, dass es in den nächsten Jahren noch einmal eine solche große Vertragsrevision gibt. Allerdings muss man auch sagen, dass die Welt ja nicht still steht, sondern sich weiter bewegt. Ich nenne nur einmal die Finanzkrise 2008. Da spürt man, dass Europa noch eine Baustelle ist und auch noch Dinge in der gemeinsamen Verantwortung fehlen. Von daher wird es also einzelne Passagen geben, die immer wieder überprüft und auch verändert werden müssen.

Das Gespräch führte Bernd Riegert

Redaktion: Heidi Engels