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Gernot Erler: „Südosteuropa - Auf der Stufenleiter Richtung EU“

19. Januar 2006

In einem Interview mit DW-RADIO äußert sich Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt, zu den Beitrittsperspektiven von Rumänien und Bulgarien, der Länder des Westbalkans und der Türkei.

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Gernot Erler: "Gleiche Rechte, gleiche Chancen für alle"Bild: SPD

DW-RADIO/Bulgarisch: Herr Erler, im Herbst vorigen Jahres empfahl die Europäische Kommission, alle Länder des westlichen Balkans und die Türkei auf eine höhere Stufe im EU-Annäherungsprozess zu heben. Besteht nicht die Gefahr, dass damit die schon existierende Erweiterungsmüdigkeit unter der EU-Bevölkerung noch erhöht wird?"

Gernot Erler: Die Frage der europäischen Integrationspolitik ist keine Frage der Verteilung von Wohltaten an irgendjemanden, sondern das ist eine verabredete europäische Strategie, die auch vor dem Hintergrund der schrecklichen Kriege auf dem Balkan in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts stattfindet und die letzten Endes das Ziel einer stabilen und friedlichen Entwicklung in Südosteuropa hat. Insofern ist das nicht beliebig veränderbar, sondern eine verlässliche politische Größenordnung."

Der letzte Monitoring-Bericht der EU-Kommission über Bulgarien und Rumänien fiel eher negativ aus. Dazu kam ein inoffizieller Bericht über die Verknüpfung zwischen Mafia und Politik in Bulgarien. Die beiden Länder befürchten nun, dass ihre EU-Mitgliedschaft um ein Jahr auf 2008 verschoben wird. Wie sieht die deutsche Haltung dazu aus?

Aus Deutschland beobachten wir, dass beide Länder im Augenblick wirklich große Anstrengungen übernehmen, um die letzten Wochen noch zu nutzen vor dem abschließenden Screening-Bericht, um ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den Forderungen zu erreichen. Entscheidend für Deutschland wird aber letztlich der Bericht der Kommission sein, der für den 17. Mai vorgesehen ist. Danach wird erst in Deutschland entschieden, wie das aus unserer Sicht mit dem Beitrittsdatum zu sein hat. Und wir werden da sicher der Empfehlung der Kommission folgen.

Das heißt auch die Ratifizierung im Bundestag wird nicht vor diesem 17. Mai stattfinden?

Das wäre in der Tat schwierig, mit diesem Prozess vor diesem Datum zu beginnen. Ich weiß, dass sich hier die deutsche Politik zum Teil unterscheidet von der von anderen europäischen Staaten, aber es gibt eine wirklich verlässliche Chance, dass wir trotzdem bis zum Ende des Jahres den Ratifizierungsprozess, der in Deutschland kompliziert ist, weil auch der Bundesrat sich daran beteiligen muss, abgeschlossen haben werden.

CIA Flug nach Rumänien
CIA-Flug nach RumänienBild: AP

Für Aufsehen sorgten in den vergangenen Wochen Berichte über angebliche geheime CIA-Gefängnisse in Bulgarien, Rumänien, Makedonien und Kosovo. Die Länder dementieren, der Europarat ermittelt, der EU-Justizkommissar droht mit Konsequenzen. Wie ist die deutsche Position dazu, angesichts der Vorwürfe, auch Deutschland habe Informationen genutzt, die durch Verhöre im Ausland gewonnen worden seien?

Man muss hier feststellen, dass es bisher keine wirklich belastbaren Erkenntnisse gibt. Bisher liegen uns nur Presseberichte und andere Berichte vor, aber keine wirklichen Beweise. Wir haben außerdem das Dementi von der amerikanischen Seite, was die Existenz von diesen so genannten Black Sites angeht. Und wir haben auch entsprechende Erklärungen aus den genannten Ländern, die das ebenfalls in Abrede stellen. Und dazu kommt, dass die Untersuchung von dem Schweizer Marty auch zu keinen verwertbaren Ergebnissen geführt hat. Solange das so ist, macht es keinen Sinn, sich sozusagen spekulativ damit zu beschäftigen, was wäre, wenn wir andere belastbare Daten hätten.

Kommen wir zu einem anderen Thema. Im Rahmen der Gespräche über den Status Kosovos will Serbien der Region eine große Autonomie zugestehen, wenn die Serben in Kosovo ihrerseits eine größere Autonomie gegenüber Pristina bekommen. Könnte es zur Teilung des Kosovo kommen? Wie soll Ihrer Meinung nach ein Kompromiss aussehen?

Wir sind mitten in dem Verhandlungsprozess über den Status von Kosovo und dabei gibt es eine Priorität und das ist der Schutz der Menschen, der Schutz der Minderheiten, der verschiedenen Ethnien, die im Kosovo leben. Das ist das wichtigste Kriterium, auch bei den Statusverhandlungen. Und das andere, was man beachten muss, ist, dass eine Veränderung der Situation im Kosovo nur im Konsens möglich ist. Weil völkerrechtlich der Kosovo immer noch in die Souveränität von Serbien-Montenegro gehört und eine Änderung auch der Zustimmung der serbischen Seite bedarf. Insofern macht es im Augenblick von außen keinen Sinn, hier irgendeine Lösung auszuschließen oder auch aufzudrücken. Wir haben es hier mit einem schwierigen Verhandlungsprozess zu tun und müssen dabei möglichst lange viele mögliche Lösungen offen lassen.

Dann gehen wir weiter zu einem anderen Problem auf dem Balkan: Montenegro steht vor dem Referendum über die Trennung von Serbien. Würde eine eventuelle Unabhängigkeit Montenegros nicht ein Signal für die Unabhängigkeit von Kosovo sein?

Wir haben in der Tat in dieser ganzen Westbalkan-Region eine große Portion von Wechselwirkung von politischen Prozessen. Das heißt, die Dinge sind miteinander verbunden, das Referendum in Montenegro, die Statusverhandlungen in Kosovo, die Verfassungsdiskussion in Bosnien-Herzegowina. Aber was Montenegro angeht, darf man auch nicht vergessen, es entspricht ausdrücklich der EU-Politik, dass man damals gesagt hat, drei Jahre soll es in dieser Verbindung probiert werden. Danach gibt es eben diese Option auf ein Referendum. Offensichtlich läuft es jetzt im Augenblick in diese Richtung. Dabei ist es sehr wichtig, dass das nach internationalen Regeln und auch in fairer Weise durchgeführt wird und dass auch alle sich daran beteiligen dürfen, die sich daran beteiligen wollen und ein Recht dazu haben. Ob man es für hilfreich hält oder sinnvoll, ist eine ganz andere Frage. Aber es stimmt: Jeder politischer Schritt, der in dieser Region gemacht wird, hat Auswirkungen und hat an anderer Stelle auch einen Einfluss.

EUFOR in Bosnien
EUFOR in BosnienBild: AP

Vor kurzem wurde das Mandat für die deutschen Truppen in Bosnien und Herzegowina verlängert. Wie lange wird das Land noch internationale militärische Präsenz benötigen?

Wir haben in letzter Zeit erhebliche Fortschritte in Bosnien-Herzegowina gemacht. Es gab Anlass, Bilanz zu ziehen mit dem zehnten Jahrestag des Dayton-Agreement. In den letzten Monaten hat es eine Armeereform, eine Polizeireform gegeben. Wir bewegen uns jetzt hin auf eine sehr entscheidende Verfassungsdiskussion. Aber vom heutigen Zeitpunkt an zu sagen, wann das internationale Engagement Bosnien-Herzegowina eingestellt werden kann, das ist nicht möglich. Das Prinzip wird sein, dass der Zeitpunkt dann gekommen ist, wenn auch die Verantwortlichen in Bosnien-Herzegowina sagen, dass sie diese internationale Hilfe nicht mehr benötigen, dass sie nach dem Prinzip der Ownership jetzt selber die Verantwortung übernehmen können. Das wird entscheidend sein. Kein abstraktes Datum. Bis dahin kann sich auch Bosnien-Herzegowina darauf verlassen, dass es diese internationale Unterstützung - auch die deutsche - weiter geben wird.

Mazedonien hat den Status eines EU-Kandidaten bekommen. Es gibt jedoch noch keinen Termin für den Beginn von Beitrittsverhandlungen. Wann sollten nach Ansicht der Bundesregierung die Verhandlungen mit Skopje aufgenommen werden?

Der neue Status von Mazedonien als Kandidatenland hängt viel mit dem Respekt und der Anerkennung zusammen, die wir dafür haben, dass - anders als bei den anderen Balkan-Konflikten - es in Mazedonien gelungen ist, 2001 einen Bürgerkrieg zu verhindern, mit dem Ohrid-Abkommen vom August 2001 ein Friedensplan zu entwerfen, der bis heute Richtschnur der Innenpolitik in Mazedonien ist. Das hat die EU dazu gebracht, ein sichtbares Zeichen zu setzen. Aber natürlich gibt es noch kein Datum für die Aufnahme von Verhandlungen, weil eben es noch einen weiten Weg gibt, was die Transformation angeht und die Umsetzung des 'acquis communautaire'. Insofern ist es klug, jetzt kein Datum zu nennen und damit das Momentum für weitere Anstrengungen aufrechtzuerhalten. Aber die Europäer wollten und haben mit dieser Entscheidung eben anerkannt, welche große Anstrengung hier in der Vergangenheit, besonders was den inneren Frieden angeht, in Mazedonien unternommen wurde.

Die EU-Erweiterungsrunden fanden bisher in der Regel mit mehreren Staaten statt. Könnte es hier eine Veränderung geben, z.B. im Hinblick auf Kroatien?

Ich glaube, dass dieses schöne Bild von der Regatta oder auch diese gruppenweise Erweiterung der EU sowieso beendet ist. Wir haben jetzt eher so eine Stufenleiter als Bild, auf der die verschiedenen Länder sich annähern an die EU. Wir haben ja ganz verschiedene Stufen. Das fängt an mit Vorbereitungen für ein Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen, dann mit Verhandlungen eines Stabilitäts- und Assoziierungsabkommens. Dann kommt als nächster Schritt die Ernennung zum Kandidatenland und dann erfolgen Verhandlungen. Und wir können sehen, dass die verschiedenen Westbalkan-Staaten hier in einer ganz unterschiedlichen Lage sind. Kroatien ist schon so weit, dass der Weg für die Verhandlungen schon freigemacht wurde, während zum Beispiel Mazedonien, was wir eben besprochen haben, erst den Status hat, und eben Bosnien-Herzegowina und Serbien-Montenegro jetzt in der Phase der Stabilitäts- und Assoziierungsgespräche sich befinden, und Albanien sogar noch auf diese Sache erst hinarbeiten muss. Das heißt, da ist gar nicht mehr von einem Gruppenprozess die Rede. Letztlich stimmt das ja sogar auch für Bulgarien und Rumänien. Das heißt, ich glaube, diese Gruppenerweiterung gehört der Vergangenheit an und insofern haben jetzt alle die gleichen Rechte und die gleichen Chancen. Es kommt eher auf die eigenen Anstrengungen und den eigenen Erfolg im Transformationsprozess an.

Jahresrückblick 2005 Oktober EU Türkei
Bild: AP

Und es kommt auch darauf an, wie die Bevölkerung in der EU reagiert. Die Erweiterungsmüdigkeit bis hin zur Ablehnung der Verfassung in Frankreich und Holland hängt eng mit Vorbehalten vieler Europäer gegen die Türkei zusammen. Besteht nicht die Gefahr, dass die Westbalkan-Länder Opfer der europäische Türkeipolitik werden?

Ich glaube, die konkreten Fakten sprechen wirklich dagegen. Grade in den letzten Monaten hat es ja hier eine ganze Reihe positiver Entscheidungen für die Westbalkan-Region gegeben. Wir haben sie eben schon alle aufgezählt. Diese Entscheidungen sprechen nicht dafür, dass tatsächlich jetzt irgendeine ‚politische Gefangenschaft’ besteht für den Westbalkan, die etwa mit der kritischen Türkei-Diskussion in Europa zusammenhängt. Und ich bin sehr froh darüber, dass das so ist, weil - wie gesagt - es sich hier nicht um eine Verteilung von Wohltaten oder Benefits geht, sondern das ist die europäische Stabilitäts- und Friedensstrategie, die hier konsequent angewandt wird für Südosteuropa.

Wie schätzen Sie den Prozess gegen den berühmten türkischen Schriftsteller Pamuk vor dem Hintergrund der Kriterien für die EU-Mitgliedschaft ein, die die Türkei erfüllen muss?

Natürlich zeigt das, wie lange der Weg noch ist, bis eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union möglich ist. Das ist ein besonderer Status, den die Türkei hat und man kann eigentlich nur hoffen, dass sich die Türkei bewusst ist, dass eben gerade solche spektakulären Fälle sich ganz negativ auf die Stimmung auswirken in Europa gegenüber diesen Verhandlungen - was eben in diesem Fall eine konkrete Gefährdung ist, weil eben immer alle 25 Staaten auch immer wieder beschließen müssen - einer hat mal ausgerechnet, das sind 64 Einzelentscheidungen, die da getroffen werden müssen bei den 30 Kapiteln - bis man da am Ende des Verhandlungsprozesses ist. Hinter diesem Prozess steckt das Armenien-Problem, die Frage des Genozids an den Armeniern von 1915. Hier muss man sagen, dass es da ja auch einige Hoffnung spendende Entwicklungen in der letzten Zeit in der Türkei gegeben hat. Insofern sehe ich eigentlich diesen Prozess gegen Pamuk als einen zeitlichen Rückfall in schlechtere Zeiten, während es durchaus auch ermutigende Zeichen gibt, was die Offenheit der türkischen Gesellschaft, sich auch hier der eigenen Geschichte zu stellen, angeht.

Das Interview führte Marinela Liptcheva-Weiss

DW-RADIO/Bulgarisch, 13.1.2006, Fokus Ost-Südost