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Glaube

„Genug der Tränen und des Blutes!“

20. November 2017

„Genug der Tränen und des Blutes“: Am Jahrestag des Attentats auf Jitzchak Rabin gedenkt Christian Feldmann von der katholischen Kirche des großen israelischen Friedenspropheten.

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Klagemauer betende Männer
Die Klagemauer auf dem Tempelberg: für viele ein Ort der Konfrontation, für Rabin ein Ort der Versöhnung.Bild: Carsten Raum/pixelio.de

Der Tote hielt noch das Textblatt der Hymne der israelischen Friedensbewegung in der Hand, die Minuten vorher auf der Kundgebung gesungen worden war. 150.000 Menschen waren an diesem 4. November 1995 auf den „Platz der Könige“ in Tel Aviv geströmt, um von der israelischen Regierung mutige Schritte zum Frieden im Nahen Osten zu fordern – sprich: Zugeständnisse an die Palästinenser, um den mörderischen Konflikt zu entschärfen. Ministerpräsident Jitzchak Rabin, der mit seinem Außenminister Schimon Peres und fast dem ganzen Kabinett auf der Bühne stand, hatte gefürchtet, es könnten nur wenige Menschen kommen; es gab Gerüchte über geplante Terroranschläge palästinensischer Extremisten.

Der Attentäter, der dann Rabins Leben auslöschte und damit die Chance auf einen realistischen Frieden für lange Zeit zerstörte, war ein Extremist – aber ein Landsmann und Glaubensgenosse des Getöteten, ein Israeli. Jigal Amir, Sohn jemenitischer Juden, wuchs in einem frommen Milieu auf, war aber schon bei seinen Klassenkameraden als Fanatiker bekannt. Araber waren für ihn Untermenschen. Amir studierte ziemlich nachlässig Jura und mit Begeisterung den Talmud, organisierte Demonstrationen gegen den Friedensprozess und äußerte immer öfter, Rabin müsse beseitigt werden. Schließlich, mit 25, kaufte er sich eine Beretta 84 F, bastelte eigenhändig mörderische Dumdum-Geschosse, die im Körper des Getroffenen zerplatzen, und feuerte nach der Friedenskundgebung am 4. November 1995 dreimal auf den Ministerpräsidenten, als dessen Leibwächter gerade abgelenkt waren. Der 73-jährige Rabin starb eine Stunde später.

Vom Hardliner zum Friedenskämpfer

Mit ihm starb für lange Zeit die Hoffnung auf Frieden. Für den Nahen Osten war Jitzchak Rabin ein Gottesgeschenk gewesen. Das Verblüffende war, dass der ebenso ideenreiche wie hartnäckige Friedenskämpfer Rabin als Generalstabschef im israelisch-arabischen „Sechstagekrieg“ 1967 ein absoluter Hardliner gewesen war. Seit der Staatsgründung 1948 hatte er in allen Kriegen gekämpft, 1967 marschierte er an der Seite von Verteidigungsminister Mosche Dajan im Triumph in die eroberte Jerusalemer Altstadt ein. Doch in den folgenden Jahren festigte sich seine Überzeugung, dass „der Weg des Friedens dem Weg des Krieges vorzuziehen“ sei. Er warb für die Strategie „Land gegen Frieden“ und unterzeichnete 1993 zusammen mit dem Palästinenserführer Jassir Arafat die Friedensverträge von Oslo, die auf eine Zwei-Staaten-Lösung abzielten.

„Wir sehnen uns nicht nach Rache“

„Genug der Tränen und des Blutes“, sagte Rabin damals an die Adresse der Palästinenser gerichtet. „Wir hegen keinen Hass gegen euch, wir sehnen uns nicht nach Rache. Wie ihr sind wir Menschen, die ein Haus bauen wollen, die einen Baum pflanzen, die lieben wollen. Wir wollen Seite an Seite mit euch leben – in Würde und Mitgefühl, als Mitmenschen, als freie Menschen. Heute geben wir dem Frieden eine Chance und sagen euch noch einmal: Es ist genug!“ US-Präsident Bill Clinton verglich Rabin nach dieser Ansprache mit den Propheten des alten Israel. Die Gewaltpolitiker auf beiden Seiten aber drohten ihm mit dem Tod. Rechtsextreme und religiöse Gruppierungen rund um den Likudblock von Benjamin Netanjahu zeigten Rabin in SS-Uniform.

Die Saat ging auf, Rabin hatte nicht mehr lange zu leben, Netanjahu wurde 1996 sein Nachfolger und machte das Gegenteil von seiner Politik. Aber es gibt eine Friedensbewegung im Land, in der Rabins Traum weiterlebt. „Wir sollten darum beten“, sagte Bill Clinton, „dass seine Arbeit nicht vergebens gewesen ist und dass jeder von uns seinen Anteil beiträgt, eine Welt zu errichten, in der die Kooperation über den Konflikt triumphiert. Rabins Geist erleuchtet noch immer den Weg.“

 

Deutschland Christian Feldmann
Bild: privat

Christian Feldmann, Buch- und Rundfunkautor, wurde 1950 in Regensburg geboren, wo er Theologie (u. a. bei Joseph Ratzinger) und Soziologie studierte. Zunächst arbeitete er als freier Journalist und Korrespondent, u. a. für die Süddeutsche Zeitung und arbeitete am „Credo“-Projekt des Bayerischen Fernsehens mit. In letzter Zeit befasst er sich mit religionswissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Themen. Zudem hat er bisher 51 Bücher publiziert. Dabei portraitiert er besonders gern klassische Heilige und fromme Querköpfe aus Christentum und Judentum. Feldmann lebt und arbeitet in Regensburg.